Licht

Der Tag danach

Gegen Mittag saß Lisa neben Tom auf der großen Picknickdecke und schaute aufs Meer hinaus. Die Luft war klar und schmeckte nach Salz. Ein paar einzelne Wolken glitten über den ansonsten klaren Himmel und mehrere Möwen zogen kreischend ihre Bahnen. Eine leichte Brise wehte bei angenehmen dreiundzwanzig Grad vom Wasser her zu ihnen herauf.

Ein Stück weiter ging die sanfte Dünenlandschaft in eine schroffe Steilküste über und man konnte von hieraus vage den Eingang zu den Seeräuberhöhlen erkennen, die sie am Vormittag besichtigt hatten und der nur über eine Reihe von Holzstiegen erreichbar war.

Unten am Wasser spielten Jannik und Merle mit ihrer Mutter ausgelassen Strandräuber, suchten Schätze im Sand und stürzten sich regelmäßig zur Erfrischung in die Fluten, Merle stets an Mamas Hand, um nicht von der Brandung umgerissen zu werden. In diesem Augenblick stürzten sich die kleinen Piraten mit Gebrüll auf ihre Mutter, die als gekaperte Beute rücklings ins flache Wasser fiel.

Tom stopfte sich ein weiteres Schnitzelchen aus dem Proviantkorb in den Mund. Lisa war fassungslos. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so viel essen? Schon vor einigen Tagen, bei Martin hatte sie sich das gefragt. Gut, dass Mama vorgesorgt hatte. Als sie heute Morgen zusammen das Auto beladen hatten, war ihr nicht klar gewesen, für wen die Unmengen Essen sein sollten, jetzt fragte sie sich, ob es überhaupt reichte.

Beim Autopacken war es auch gewesen, als ein Wagen an den Häusern vorbei den Hügel hochraste. Es war das Servicefahrzeug des Wetterdienstes gewesen und Lisa überkam Mitleid mit dem Techniker, der erneut losgeschickt worden war, um ein technisches Problem zu beheben, das er nie finden würde, weil es keins gab.

Lisa wollte schon zur Messstation hinaufradeln und mit dem Mann sprechen, Tom hielt sie jedoch davon ab. Er meinte, es gäbe ja doch keine Erklärung, die den Wettertechniker zufriedenstellen würde.

Tom war offenbar fertig mir seiner Fressorgie, denn er wischte die Finger an einer Serviette ab und brachte ein wohliges Grunzen hervor.

Er ließ seinen Blick ebenfalls übers Meer schweifen.

„Ich habe nachgedacht“, sagte er. „Mir geht es nicht anders als den Menschen, denen wir geholfen haben. Ich würde mich so gerne von meinen Eltern verabschieden, aber das geht nicht. Das macht mich traurig.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Lisa.

Sie sahen übers Meer und schwiegen. Vorsichtig legte Tom seine Hand auf Lisas. Unten kreischte Lisas Mama, sich auf dem Rücken im Sand wälzend, während Merle und Jannik auf ihrem Bauch saßen und sie kitzelten. Lisa und Tom mussten lachen.

„Deine Familie ist verrückt“, kommentierte er.

„Da kann ich nicht widersprechen“, gab Lisa zurück.

Lisa hielt einen Moment inne. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dann drückte sie vorsichtig die Klinke zum Arbeitszimmer ihres Vaters herunter und schob die Tür langsam auf. Es sah alles so aus, wie sie es beim letzten Mal verlassen hatte.

Lisa trat ein. Sie nahm einen leeren Aktenordner aus dem Umzugskarton links neben dem Schreibtisch, öffnete ihn und legte ihn auf die Arbeitsfläche. Dann holte sie den Locher aus der Schreibtischschublade und stellte ihn neben den Ordner.

Danach trat sie vor die Pinwand und begann sorgfältig, die einzelnen Artikel, Fotos und Notizzettel von der Korkplatte abzunehmen. Sie wickelte den Faden auf und verstaute ihn in einer kleinen Blechdose, die ihr Vater wohl eigens dafür auf die Regalecke gestellt hatte. Die Pinnadeln legte sie dazu.  Am Ende hielt Lisa einen großen Stapel Papier in der Hand. Sie schaute noch einmal auf die leere Pinwand. Es war so viel passiert in den letzten Tagen.

Dann schob Lisa die Schreibtischschublade zu und setzte sich. Um an die Einlegeblätter zu kommen, die sich im gleichen Karton befanden, wie zuvor der Aktenordner, musste sie sich strecken. Nun machte sich Lisa an die Arbeit. Sie öffnete den Klebestift, der auf dem Tisch bereitstand und begann nach und nach, die Zeitungsartikel Notizen und Bilder auf die Blätter zu kleben und abzuheften. Auch die Messprotokolle heftete sie dazu. Dabei sah sie sich alles noch einmal an und dachte über das Erlebte nach.

Natürlich war sie immer noch traurig darüber, dass ihr Vater gestorben war aber nicht mehr so sehr, wie noch vor wenigen Tagen und nun, da sie so viel erfahren hatte, stellte sich mit jedem Blatt, das sie einklebte, mehr Ruhe ein. Es waren viele Fragen offengeblieben, aber ihr Vater war nicht einfach weg. Er war immer noch da, in Lisas Gedanken, in ihrer Erinnerung und irgendwo an einem Ort, den Lisa nicht kannte. Eines Tages würde sie ihn vielleicht wiedersehen.

Als sie ihre Arbeit beendet hatte, schloss Lisa den Aktenordner, zog die Schreibtischschublade auf und legte ihn hinein. Dabei fiel ihr Blick auf eine Europakarte, die darin lag. Lisa nahm sie heraus, breitete sie auf der Schreibtischplatte aus und erschrak. Die Karte war übersät mit roten Filzstiftpunkten. Nur ein einziger Punkt war blau markiert, der Ort, an dem Lisa jetzt lebte.

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