Tag sieben
Während der Gesang allmählich zu ihr durchdrang, erinnerte sich Lisa noch an den einzigen Traum der letzten Nacht. Ihr Vater hatte auf der Bettkante gesessen, über ihr Haar gestrichen und ihr „danke Lisa, du bist toll“ zugeflüstert. Dann hatte er „ich liebe dich meine Große“ gesagt, sie auf die Stirn geküsst und hatte das Zimmer verlassen.
„Der Spatz erzählt’s dem Morgenwind, tirallala tiri…“, sangen Jannik und Mama gemeinsam in einer Tonart, Merle hatte ihre eigene. Es war ein schönes Familienritual, so geweckt zu werden. Noch vor einer Woche hatte Lisa anders darüber gedacht. Jetzt stürzten sich nacheinander Merle, Jannik und Mama auf sie, um ihr zu gratulieren und sie zu umarmen und Lisa genoss es, auch wenn sie beim Wiederloslassen aneinander klebenblieben.
Merle riss Lisa die Bettdecke weg und zerrte mit beiden Händen an Lisas Arm. Unterdessen machte Jannik unentwegt Fotos mit Mamas Smartphone. Nichts an diesem Morgen sollte undokumentiert bleiben. Im nächsten Augenblick warf er es seiner Mutter zu, die es geschickt mit einem Aufschrei fing.
„Die Geburtstagskerze“, rief er noch und rannte stampfend die Treppe hinunter. Merle lies Lisa abrupt los, worauf diese wieder zurück ins Bett fiel, und folgte ihrem Bruder.
„Ich glaube, wir sind hier fertig“, kommentierte ihre Mutter. „Hab etwas Nachsicht, sie sind sehr aufgeregt.“
Unten vor der Küche musste Lisa durch das Geburtstagstor kriechen, das Merle und Jannik bildeten, was sich aufgrund Merles Größe schwierig gestaltete. Als Lisa unter großem Gelächter und weiteren Fotos seitens ihrer Mama die Küche erreichte, wartete dort der traditionelle Geburtstagstisch auf sie. Die Geschenke waren mit einem Tuch abgedeckt und Jannik hatte offensichtlich geschafft, die Kerze noch rechtzeitig anzuzünden.
Merle hüpfte aufgeregt um den Tisch herum. Jannik stand daneben und strahlte über das ganze Gesicht.
„Nun mach doch schon“ sagte Lisas Mutter. „Wie lange willst du uns denn noch auf die Folter spannen?“
Lisa trat an ihren Geschenketisch heran. Zuerst ertastete sie unter dem Tuch ein Blatt Papier und zog es heraus. Es war ein selbstgemaltes Bild von Jannik, das einen sehr farbenfrohen Garten zeigte. Es war deutlich zu erkennen, dass ihr Bruder sich den Bauerngarten vor dem Haus zum Vorbild genommen hatte. Er musste Stunden damit zugebracht haben, dieses Bild zu malen.
Lisa umarmte ihn. „Danke Jannik, das ist sehr schön. Jetzt kann ich mir meinen Garten sogar ins Zimmer hängen. Dafür hast du bestimmt lange gebraucht, so viele Blumen.“
„Zum Glück warst du immer so viel weg. Ich habe nämlich vorne auf der Treppe gemalt. Ich musste doch gucken, wie die Blumen aussehen. Wenn du wiedergekommen bist, bin ich ganz schnell reingerannt. Du hast nichts gemerkt.“ Jannik freute sich diebisch über sein Geschick. Und er hatte Recht, Lisa hatte tatsächlich nichts gemerkt.
Jetzt wurde Merle ungeduldig. „Da ist auch was ganz Tolles von mir drunter, auch selbstgemacht. Nun guck schon, das liegt ganz vorne.“
Erneut griff Lisa unter das Laken und zog etwas Undefinierbares hervor. Es war ein Gebilde aus Stäben, an das mit farbigen Wollfäden Verschiedenes angebunden war. Lisa erkannte, dass es wohl ein Mobile sein sollte. Sie entwirrte es und hielt es vor sich in die Höhe.
Merle hielt es nicht mehr aus und fing sogleich an zu erklären. „Das ist ein Geburtstags Momile.“ verkündete sie. Das kannst du dir übers Bett hängen und immer draufgucken, morgens und abends und dann denkst du immer an deinen Geburtstag. Ist das nicht toll?“ Sie zeigte auf die vielen, mit Wasserfarben bunt bemalten Papierknuddel. „Das hier sind alles Geschenke und das“, sie wies auf einen ebenfalls bemalten Sechser-Eierkarton, in dessen Deckel fünfzehn Zahnstocher steckten, „das ist deine Geburtstagstorte.“ Dann wandte sie sich dem letzten Objekt zu, einem riesigen Wattebausch, der an einem hellblauen Wollfaden befestigt war und Lisa stark an einen übergroßen Tampon erinnerte. „Das ist das allerbeste. Das ist Zuckerwatte. Ich finde, zum Geburtstag muss jeder immer ganz viel Zuckerwatte kriegen. Ich wünsch mir ganz viel Zuckerwatte zum Geburtstag.“
Im letzten Jahr waren sie mit der ganzen Familie auf der Kirmes gewesen und Merle durfte sich Zuckerwatte kaufen, eine große Portion nur für sich allein. Seitdem schwärmte sie dafür. Immer, wenn sich die Gelegenheit ergab, erzählte sie, dass sie immer auf die Kirmes ging und dass sie dort immer Zuckerwatte aß. Lisa musste dann jedes Mal schmunzeln, denn beides war für Merle Premiere gewesen.
„Und, wie findest du mein Momile?“ hakte Merle nach.
„Interessant“, erwiderte Lisa und erhaschte einen Blick ihrer Mutter, die hinter Merle stand und krampfhaft versuchte, sich das Lachen zu verbeißen.
„Ja, find ich auch!“, bekräftigte ihre kleine Schwester, „und jetzt musst du weiter auspacken. Da ist noch was drunter.“
„Ich denke, du kannst das Tuch jetzt einfach wegziehen“ meinte Mama.
Als Lisa das tat, ging ihr ein Licht auf. „Du Schuft!“ sagte sie, an ihre Mutter gewandt. „dann war das die ganze Zeit Absicht.“ Mit gespielter Empörung knuffte sie ihrer Mama in den Oberarm.
Auf dem Tisch lag ein ganzer Stapel neuer Kleidung, von der Unterwäsche bis zur Oberbekleidung.
„Ich hoffe, die Sachen gefallen dir, die Größe stimmt jedenfalls. Ich hatte so Angst, als du unbedingt mit Tom in die Stadt zum Bummeln fahren wolltest. Ich habe so sehr versucht, dich davon abzuhalten, aber du warst ja nicht umzustimmen. Ich war ganz erleichtert, als du mit leeren Händen wiederkamst. Andererseits, ist denn hier überhaupt etwas dabei, das dir gefällt? Wir können alles wieder umtauschen. Das habe ich mit der Verkäuferin abgesprochen.“ Ihre Mutter konnte ja nicht wissen, dass Lisa nur deshalb nichts gefunden hatte, weil sie in der Stadt nicht ein einziges Bekleidungsgeschäft betreten hatte.
„Schon gut Mama“, stoppte Lisa sie, „die Sachen sind echt schön.“ Sie schaute sich die Kleidung genauer an. Sie gefiel ihr wirklich. Ihre Mutter hatte zielsicher Lisas Stil gewählt.
„Schön“, sagte Lisas Mama erleichtert, „die Modenschau verschieben wir auf später, jetzt wird erst einmal gefrühstückt. Lisa, räumst du bitte deine Geschenke da rüber? Merle, Jannik, ihr deckt den Tisch und ich kümmere mich mal um“, sie unterbrach sich, „na das siehst du ja gleich.“
Wenig später saß Lisa am Tisch und musste die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnete, standen die anderen drei mit einem Gugelhupf vor ihr, der von fünfzehn brennenden Kerzen gekrönt wurde. Vielmehr standen Mama und Jannik vor ihr, denn Merle hüpfte wieder ohne Unterlass auf und ab. Sie stellten den Kuchen vor Lisa auf den gedeckten Tisch und forderten sie auf, sich beim Auspusten etwas zu wünschen.
„Und du darfst es nicht verraten“ meinte Merle, „was schade ist, aber sonst geht es nicht in Erfüllung.“
Lisa schloss die Augen und dachte nach. Dann öffnete sie sie wieder und blies, unter Mertes Beifall, alle Kerzen in einem Zug aus.
„Und wenn du noch einen Wunsch hast, sag es mir“ sagte ihre Mutter lächelnd. „Ich tue mein Bestes, um ihn zu erfüllen, du bist schließlich das Geburtstagskind.“
Als Lisa den Geburtstagskuchen anschnitt, konnte Merle ihre Nervosität ein weiteres Mal nicht zügeln. Noch bevor ihre große Schwester es selbst entdecken konnte, platzte sie heraus, „Das ist ein Papageienkuchen, der ist innen ganz bunt.“
Niemand nahm es ihr übel, denn die anderen hatten einen großen Spaß daran, wie sehr das kleine Mädchen sich über den Geburtstag ihrer Schwester freute. Wäre es ihr eigener gewesen, die Begeisterung hätte kaum größer sein können.
„Den haben wir gestern Abend gebacken, als du im Bett warst“ ergänzte Jannik. „wir haben vielleicht geschwitzt. Hast du gemerkt, es ist immer noch viel heißer, hier in der Küche.“
„Habe ich gemerkt“, sagte Lisa, „aber das macht nichts. Erstens hat es sich gelohnt und zweitens werden wir sowieso alle gekocht, wenn das mit dem Wetter so weitergeht.“
„Ehrlich?“ fragte Merle mit großen Augen.
„Nein“, sagte Lisa beruhigend, „das war nur ein Scherz. Ich wollte damit nur sagen, wie fürchterlich heiß es im Moment ist.“ Sie strubbeIte ihrer jüngeren Schwester durchs Haar, die erleichtert aufatmete.
„Ach so“, meinte diese, „und ich hab‘ schon gedacht…“
Während Lisa allen ein ordentliches Stück abschnitt, jauchzte Merle immer wieder vor Begeisterung über die vielen bunten Farben des Kuchens auf und klatschte dabei in die Hände.
Nach dem gemeinsamen Frühstück verging der Vormittag nur schleppend. Alle Familienmitglieder verzogen sich in eine andere Ecke des Hauses und gingen dort träge einer Beschäftigung nach oder dösten vor sich hin.
Gegen Mittag raffte Lisa sich von ihrem Bett auf, stieg unter die Dusche und zog eine Garnitur ihrer neuen Kleidung an. Sie hatte ein weit geschnittenes Oberteil mit bauschigen Ärmeln gewählt, die an der Oberseite offen waren und nur von vier Bändern zusammengehalten wurden. Es fühlte sich herrlich luftig an. Dazu trug sie jetzt Shorts und ein paar Sportsandalen, die auch auf dem Geburtstagstisch gelegen hatten und ihre alten, abgetragenen Sandalen ersetzten, die in letzter Zeit ziemlich knapp geworden waren.
Als Lisa anschließend die Küche betrat, stand ihre Mama an der Arbeitsfläche und bereitete einen weiteren Kuchen mit Quark und Früchten für den Nachmittag vor. Im Radio liefen gerade die Nachrichten.
„Heute ist auch das zweite Unfallopfer des schweren Verkehrsunfalls, der sich vor zwei Wochen in einem Wohngebiet ereignete, seinen Verletzungen erlegen“, tönte es aus dem Lautsprecher. „Wie eine Krankenhaussprecherin mitteilte, wurde bei dem Mann der Hirntod festgestellt. Die lebenserhaltenden Maßnahmen werden, in Absprache mit den Angehörigen, heute im Laufe des Vormittags abgeschaltet. Die Ehefrau des Mannes wird derzeit im Krankenhaus von einem Notfallseelsorger betreut. Bei dem Unfall kam auch die Tochter des Paares, ein vierjähriges Mädchen ums Leben. Und nun zum Wetter. Heute Nacht findet die derzeitige Hitzewelle ihr vorläufiges Ende. Landesweit werden heftige Gewitter mit örtlichem Starkregen erwartet. Die Temperaturen fallen in Folge auf angenehme einundzwanzig bis zweiundzwanzig Grad. Am Montag erwartet uns dann sommerliches Wetter bei angenehmen Temperaturen zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad mit nur vereinzelten Wolken. Es bleibt trocken.“
Den Wetterbericht hörte Lisa kaum noch. Mit einem Schlag war ihr klar, dass es heute Nacht passieren würde. Es würde kalt werden, das Licht wäre wieder da und all die Menschen würden sich erneut auf der Lichtung versammeln. Sie würde ihren Vater wiedersehen.
Ihre Mutter bemerkte, dass Lisa immer noch wie angewurzelt in der Tür stand und drehte sich zu ihr um. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihre Tochter in der neuen Kleidung sah, verflog aber sogleich wieder, als sie in ihr kreidebleiches Gesicht blickte.
„Was ist los?“ Besorgt ging sie ein paar Schritte auf Lisa zu.
„Mama, du hast heute Morgen gemeint, ich soll sagen, wenn ich noch einen Wunsch habe. Ich habe einen Wunsch, das heißt, eigentlich mehrere. Das wird dir alles sicherlich merkwürdig vorkommen, aber bitte vertrau mir und frag nicht nach. Heute Nacht wird sich alles klären.“
„Lisa du machst mir Angst.“
„Du brauchst keine Angst zu haben Mama. Es wird alles gut. Ich möchte dich nur bitten, mich gleich mit dem Auto wo hinzufahren. Da ist noch mehr, aber das erkläre ich dir heute Abend.“
Lisas Mama setzte an, etwas zu erwidern, wurde jedoch gleich von ihrer Tochter unterbrochen.
„Bitte Mama“ sagte diese nur.
„Also gut“ seufzte Mama, „aber das musst du mir wirklich noch erklären.“
„Danke.“ Lisa stürzte aus der Küche und lies ihre verwirrte Mutter zurück. Sogleich setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Vaters, nahm Briefpapier und Umschläge hervor und begann zu schreiben.
Nach gut zwei Stunden legte sie den Stift beiseite, faltete das letzte Schreiben einmal in der Mitte und steckte es zusammen mit Tiffis Tagebuch in den großen braunen Umschlag, den sie dafür bereitgelegt hatte. Sie klebte alle drei Briefe zu, die sie geschrieben hatte, legte sie zu einem Stapel zusammen und griff zum Telefonhörer.
„Tom, es ist so weit“, sagte Lisa nachdem der sich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. „Es passiert heute Nacht.“ Sie schilderte Tom kurz, was sie vorhatte, und bat ihn, in einer Viertelstunde vor dem Haus auf sie zu warten. Dann nahm sie die Briefe und gab ihrer Mutter Bescheid, dass sie fahren konnten.
Tom wartete schon vor dem Gartentor, als Lisa und ihre Mama aus der Tür traten. Ihm entfuhr ein „Wow“, was Lisa mit einem Anflug von Röte quittierte, ansonsten aber gekonnt ignorierte. Währenddessen versuchte ihre Mutter hinter Lisas Rücken Tom wild gestikulierend klarzumachen, dass er ihr doch zum Geburtstag gratulieren solle. Dies verwirrte den völlig ahnungslosen Jungen aber so sehr, dass er sie nur mit offenem Mund anstarrte. Schließlich gab Lisas Mama auf and holte den Wagen aus der Garage. Ganz selbstverständlich nahm Lisa auf dem Beifahrersitz Platz, so dass Tom nichts anderes übrigblieb, als mit der Rückbank Vorlieb zu nehmen.
„Wo soll es denn hingehen?“, fragte Lisas Mutter, als alle saßen.
„Zuerst zu Terry’s“, antwortete Lisa „und dann noch zu zwei anderen Adressen im Ort. Die letzte Adresse ist außerhalb. Ich sag dir dann wohin.“
Lisas Mama drehte sich zu Tom um. “ Was ist eigentlich deine Rolle hierbei?“
Tom zuckte die Schultern. “ Ich glaube, ich bin nur zur Unterstützung da.“ Hilfesuchend schaute er zu Lisa.
“ So kann man es zusammenfassen“, sagte diese kurz angebunden und als niemand mehr etwas ergänzte, legte Lisas Mutter den ersten Gang ein und fuhr los.
Bei Terry’s angekommen sprang Lisa aus dem in eine Staubwolke gehüllten Auto und eilte mit einem der Briefe ins Geschäft, um gleich darauf wieder mit leeren Händen zu erscheinen.
Als nächstes ging es zu Trudi und danach zu einem Haus weiter hinten in der Straße. Den Brief für Trudi warf sie ihr einfach in den Briefkasten am Gartentor. Am Haus vom Tiffis Mutter hatte sie allerdings einige Mühe, das Päckchen mit dem Tagebuch durch den engen Briefschlitz zu schieben.
Als Lisa wieder ins Auto stieg blickte ihre Mutter sie erwartungsvoll an.
„Und jetzt?“
„Bitte fahr mich zum St.- Josephs- Hospital.“
„Lisa!“ Mamas Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwunderung, Ratlosigkeit und Verärgerung.
„Bitte Mama, nicht jetzt. Bitte!“ Lisa hatte einfach nicht die Kraft, ihrer Mutter auf die Schnelle die Zusammenhänge plausibel zu verdeutlichen. Außerdem fürchtete sie, ihre Mama könnte alles für Unfug halten. Es war ja auch unglaublich.
Lisas Mutter zögerte noch einen Moment, gab dann aber nach.
„Ich bin wirklich gespannt auf deine Erklärung heute Abend. Du machst es ja ziemlich spannend“, merkte sie an, während sie den Wagen Richtung Hauptstraße lenkte. „Dann fahre ich dich wohl mal zum St.-Josephs-Hospital.“
Derweil kauerte sich Tom auf dem Rücksitz zusammen, um möglichst nicht aufzufallen.
Auf dem Krankenhausparkplatz angekommen drehte Lisa sich zu Tom um.
„Begleitest du mich? Ich könnte ein bisschen Rückendeckung gebrauchen.“
„Na klar“, antwortete Tom. „Ich kam mir schon überflüssig vor.“
Gemeinsam betraten sie die Klinik, während Lisas Mutter sich einen schattigen Platz unter den Bäumen suchte, die den Parkplatz säumten, um zu warten.
Lisa steuerte zielstrebig auf die Anmeldung zu und erkundigte sich nach Daniel Egger, dem Mann, der bei dem Autounfall so schwer verletzt worden war, dass heute die Maschinen abgestellt werden sollten, die ihn künstlich am Leben hielten. Die Frau gegenüber antwortete nicht gleich, sondern beäugte die beiden Teenager misstrauisch.
„Wer seid ihr denn?“, fragte sie endlich.
„Wir sind sein Neffe und seine Nichte“, log Lisa, in der Hoffnung, die Dame am Tresen würde nicht weiter nachfragen. „Unsere Tante Sarah hat heute Morgen angerufen und gesagt, wir sollen kommen, wenn wir uns verabschieden wollen.“ Lisa war froh, dass sie die Namen des Unfallopfers und seiner Frau über das Internet herausbekommen hatte, denn die Frau an der Anmeldung schien auf ihren Trick hereinzufallen. Mit mitleidiger Miene tippte sie etwas in den Computer ein und gab Lisa die gewünschte Antwort.
„Station C, Zimmer 317. Das ist in der 2. Etage, wenn ihr aus dem Aufzug kommt, rechts. Es tut mir sehr leid für sie.“
„Lieb, dass sie das sagen und danke für die Auskunft“, sagte Lisa mit betroffenem Gesicht, um sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie war, herausgefunden zu haben, wo sie hinmussten. Eine Hürde war genommen.
Lisa ging auf die Aufzüge zu. Tom murmelte ein „Danke“ und trottete hinterher. Als sie im Fahrstuhl standen und sich die Tür schloss, konnte er nicht mehr an sich halten.
„Boah, bist du abgebrüht. Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen, als du auf die Anmeldung zugesteuert bist. Hättest du mich nicht vorwarnen können?“
„Dann wärst du nur noch nervöser gewesen und hättest uns womöglich verraten, oder du hättest ganz gekniffen und ich hätte allein reingehen müssen.“
„Und was wäre gewesen, wenn die Frau oben angerufen hätte und wir aufgeflogen wären?“
„Sind wir aber nicht. Außerdem, hättest du etwa eine bessere Idee gehabt? Oder hast du gewusst, auf welchem Zimmer der Mann liegt?“
„Du hast ja Recht, mir ist nur eben fast das Herz in die Hose gerutscht.“
In diesem Moment ertönte ein ‚Bing‘ und die Fahrstuhltür öffnete sich. Gerade lief eine Pflegerin vorbei.
„Entschuldigung“, sprach Lisa sie an, „wissen sie, ob meine Tante schon hier ist? Sarah Egger?“
Die Krankenpflegerin zeigte auf eine Frau am Ende des Flures. Sie füllte gerade Wasser aus einem Spender in einen Pappbecher.
„Ach Entschuldigung, da ist sie ja. Ich habe sie nicht gesehen“, sagte Lisa und die Pflegerin eilte weiter.
Lisa wandte sich Tom zu, der sich schnell umgedreht hatte und so tat, als müsste er sich die Nase putzen, um nicht aufzufallen.
„Danke, dass du mich begleitest. Ich denke, ab hier muss ich allein gehen. Wünsch mir Glück.“
„Das tue ich.“ Er steckte das Papiertaschentuch in die Hosentasche und schaute ihr nach.
Lisa ging den langen Flur entlang auf die Frau zu und sprach sie an.
„Entschuldigung. Sie kennen mich nicht. Ich habe eine ungewöhnliche und schwere Bitte an sie. Darf ich es ihnen erklären?“
Tom beobachtete das Gespräch von Weitem, jedoch konnte er weder verstehen, was besprochen wurde, noch konnte er aus der Mimik der Frau herauslesen, was sie von dem, was Lisa ihr erzählte hielt. Sie stand da, hielt sich an ihrem Becher fest und hörte dem Mädchen zu, das sie so unerwartet angesprochen hatte. Tom sah, dass die Frau ein paar Mal einige kurze Sätze sprach, vielleicht fragte sie auch etwas nach. Ein oder zweimal nickte sie. Dann zog Lisa ein Stück Papier aus der Hosentasche und schrieb etwas mit einem Kugelschreiber darauf, den die Frau ihr reichte, die Wand als Schreibunterlage nutzend. Endlich verabschiedete Lisa sich und kam zu Tom zurück, der sie schon ungeduldig erwartete.
„Und?“, fragte Tom.
„Ich glaube, sie wird kommen“, antwortete Lisa.
Dann stiegen die zwei Jugendlichen wieder in den Aufzug und fuhren hinunter in die Eingangshalle. Erleichtert stellten sie fest, dass die Dame am Empfang gerade telefonierte und ihnen den Rücken zuwandte. Schnell huschten sie an ihr vorbei durch den Haupteingang und standen schließlich wieder auf dem Parkplatz, wo Lisas Mutter immer noch an einen Baum gelehnt im Schatten saß. Sie trank aus einer Wasserflasche und bot den beiden ebenfalls eine aus einem Sixpack an, welches sie in weiser Vorahnung von zuhause mitgenommen hatte und das nun aufgerissen vor ihr auf dem Boden stand. Tom und Lisa nahmen das Angebot dankend an, denn es war so heiß, dass sogar das Atmen schwerfiel und das Pflaster des Platzes hatte so viel Hitze gespeichert, dass es durch die Schuhsohlen hindurch zu spüren war.
„So, wir müssen jetzt aber auch wirklich los“, sagte Lisas Mama. „Ich will Jannik mit Merle nicht länger allein lassen und außerdem kriegst du gleich noch Besuch.“
„Ich kriege Besuch?“, fragte Lisa verdutzt.
„Lass dich überraschen“, zwinkerte Mama ihr zu. „Du verrätst mir ja auch nicht alles.“
Die Rückfahrt stellte sich als sehr anstrengend heraus, denn Sie dauerte nicht nur besonders lange, weil sie eine Viertelstunde hinter einem Traktor hingen, der sich auf der kurvigen Landstraße nicht überholen ließ, sondern es schaffte auch die altersschwache Klimaanlage nicht, die Wärme aus dem Auto zu vertreiben.
Zuhause angekommen, sprach Mama Tom an und lud ihn zum Kaffeetrinken ein. Auf seinen fragenden Blick ergänzte Lisa nur, „ich habe heute Geburtstag“, was Tom sichtlich unangenehm war.
„Oh“, sagte er, „das habe ich nicht gewusst. Ich habe überhaupt kein Geschenk für dich.“
„Macht nichts. Geschenke werden total überbewertet“, flapste Lisa. „komm einfach um Vier rüber. Es gibt ganz viel Kuchen. Da müsstest sogar du satt werden.“
„Was soll das denn schon wieder heißen?“, fragte Tom mit gespielter Entrüstung. „Na, ich will mal ein Auge zudrücken, du bist ja schließlich das Geburtstagskind. Also vier Uhr. Ich bin da. Wie sagen die immer im Film? Ich gehe mich nur noch schnell frischmachen“ und damit war er verschwunden.
Gegen kurz vor vier war Lisa gerade dabei, die Kaffeetafel auf der Terrasse herzurichten, als es an der Tür schellte. Sie hatte, wie von Mama gewünscht, zwei Gedecke mehr aufgelegt, eins für Tom und ein weiteres für den Überraschungsgast. Die Kuchen standen noch in der Küche kühl, damit sie nicht in der unglaublichen Hitze zerflossen, aber Lisa hatte schon den Kaffee bereitgestellt. Eine zweite Kanne stand seit dem Vormittag im Kühlschrank und sollte als Eiskaffee serviert werden. In einem Wischeimer im Schatten standen verschiedene Säfte und Mineralwasser bereit. Der Eimer war mit zerstoßenem Eis aufgefüllt, das Mama bereits in der vergangenen Woche extra zu diesem Zweck bei Terry’s gekauft hatte.
„Lisa? Kommst du mal? Dein Besuch ist da“, ertönte Mamas Stimme von drinnen.
Lisa legte die letzten Kuchengabeln neben die Teller und ging ins Haus. Dort fand sie ihre Mutter vor, die im Küchentürrahmen lehnte und Martin, der mit einem Geschenk in Händen im Flur stand.
„Na Lisa, weißt du, wer das ist?“, fragte ihre Mutter. Sie schaute zu Martin. „Du hast sie auf der Beerdigung angesprochen, aber ich glaube nicht, dass sie dich erkannt hat.“
„Böh-Martin“, antwortete Lisa, ohne lange nachzudenken, woraufhin ihre Mama vor Begeisterung anfing zu hüpfen, was stark an Merles Freudenausbruch vom Vormittag erinnerte.
„Das gibt’s ja gar nicht. Daran kannst du dich erinnern? Und das, wo du noch so klein warst!“
In diesem Augenblicke klingelte es erneut an der Haustür und Tom schob sich halb durch die nur angelehnte Tür.
„Darf ich reinkommen?“
Er erkannte Martin und etwas blitzte in seinen Augen auf, bevor er jedoch weitersprechen konnte, trat Martin auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin.
„Hallo, ich bin Martin und du, junger Mann?“ Er zwinkerte Tom zu.
Dieser begriff endlich und spielte mit. „Mein Name ist Tom. Ich wohne nebenan.“
Martin drehte sich wieder zu Lisa um und überreichte ihr das Paket.
„Gleich möchte ich auch deine Geschwister kennenlernen, aber jetzt will ich dir erstmal gratulieren. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“
„Und ich habe immer noch kein Geschenk“, murmelte Tom im Hintergrund und scharrte verlegen mit dem Fuß.
Tom wollte Lisa ebenfalls gratulieren, doch da klatschte Lisas Mutter in die Hände und schob die drei Richtung Garten.
„Merle, Jannik, Kuchen“, schrie sie so laut, dass alle zusammenzuckten, um dann in leiserem Ton fortzufahren, „ihr setzt euch derweil auf die Terrasse. Die zwei Rabauken und ich bringen den Kuchen. Martin, möchtest du einen Eiskaffee? Ich habe welchen kaltgestellt. Tom, du auch? Lisa?“
Als alle zugestimmt hatten, rauschte sie in die Küche, während Lisa ihre Gäste hinters Haus geleitete.
„Das ist ja nochmal gut gegangen“, flüsterte Martin ihnen auf dem Weg zu und knuffte Tom dabei in die Rippen.
Draußen angekommen forderte Martin Lisa auf, das Paket zu öffnen. Zum Vorschein kam ein Buch mit dem Titel ‚Saubere Recherche‘, ein Fachbuch für Journalisten und Martin kommentierte, „Ich dachte, das könntest du gebrauchen, denn offensichtlich trittst du ja in die Fußstapfen deines Vaters, aber jetzt packst du es am besten weg, sonst fliegen wir doch noch auf.“
Daraufhin ging Lisa kurz ins Haus und ließ das Buch im Arbeitszimmer ihres Vaters verschwinden. Danach machten es sich die drei am Terrassentisch gemütlich. Kaum saßen sie, da kamen Merle, Jannik und Mama auch schon mit den Kuchenplatten. Bei Merle sah es besonders gefährlich aus, denn sie balancierte einen riesigen Teller mit den Quarkschnitten, die Mama heute Vormittag gemacht hatte. Lisa sah bereits Quarkschnitten über die gesamte Terrasse verteilt und auch Mama setzte schnell den Kuchen ab, den sie trug, um im Notfall eingreifen zu können, aber Merle schaffte es tatsächlich, ihre Fuhre unbeschadet auf dem Tisch abzustellen.
Lisa bemerkte, dass auch Martin und Tom den Atem angehalten hatten und wie sie nun gleichzeitig ausatmeten.
Lisa bewunderte ihre Mutter dafür, dass sie Merle so viele Dinge selbst tun ließ, damit sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln konnte. Sie selbst hätte nicht die Geduld dazu. Sie nahm sich vor, in Zukunft mehr darauf zu achten und geduldiger mit ihrer kleinen Schwester zu sein.
Plötzlich blitzte ein Bild in ihrem Kopf auf und Lisa sah ihren Vater, wie er in einem der Sessel saß, sich die Hände vors Gesicht hielt und durch die Finger hindurch beobachtete, ob das drohende Unheil wirklich eintreten würde. Ja, so hätte er sicherlich reagiert, aber auch er hätte Merle machen lassen.
Lisa spürte die Nähe ihres Vaters. Irgendwie war er noch bei ihr. Es fühlte sich gut an und wenn alles glatt lief, würde sie ihn heute Nacht sogar wiedersehen.
Um Lisa herum lief das Leben inzwischen weiter. Alle füllten sich Kuchen auf, versorgten sich mit Getränken, scherzten und lachten. Jannik und Merle hatten sich mit Martin bekannt gemacht, der ihnen nun beim Beladen ihrer Teller half.
Wie sehr hatte Lisa sich vor diesem Tag gefürchtet und nun war alles so wundervoll. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Papa auch daran seinen Anteil hatte.
Nach der Kaffeetafel brachte Mama ein Kartenspiel raus und teilte für Mau-Mau aus, ein Spiel, das Merle bisher nicht kannte und da es sie viel Mühe kostete, die Zahlen zu entziffern, bildeten die zwei ein Team. Lisa griff Jannik unter die Arme, weil dieser sich durch Mamas Unterstützung für Merle benachteiligt fühlte.
Nur Martin musste es als Einzelkämpfer mit allen gleichzeitig aufnehmen. Er trug mit seinem Ärger, sehr zum Vergnügen von Lisas Geschwistern jedes Mal dick auf, wenn er wieder Karten ziehen oder aussetzen musste. Lisa beobachtete ihn heimlich dabei und stellte fest, dass er wirklich ein Händchen für den Umgang mit Kindern hatte. Gelegentlich zwinkerte er ihr zu, wenn er sich von Merle und Jannis unbeobachtet glaubte.
Tom verzichtete mit der Begründung darauf, viel zu vollgefressen zum Denken zu sein, an dem Spiel teilzunehmen. Lisa vermutete aber, dass er viel lieber in Ruhe das Treiben der fröhlichen Gesellschaft verfolgen wollte, als sich mit den eigenen Karten zu beschäftigen.
Immer, wenn das Spiel stockte, weil Merle sich mit ihrem nächsten Zug abmühte oder sich jemand etwas zu trinken aus dem Eimer holte, gab Mama eine Geschichte aus Lisas Kindheit zum Besten, sehr zum Leidwesen von Lisa, denn so kam heraus, dass sie einmal als Zweijährige beim Frühstück von der Butter abgebissen und ein anderes Mal Martin in den Nacken gepinkelt hatte, weil sie es nicht mehr halten konnte, aber gerade keine Windeln trug.
Tom lachte bei der Erzählung laut los, bereute es jedoch sogleich wieder. Lisa funkelte ihn noch mehr an, als zuvor ihre Mutter und nahm ihm bei Androhung der Todesstrafe das Versprechen ab, nichts von dem hier Gehörten je außerhalb zu erzählen.
Merle, die den Scherz nicht verstand, fragte Lisa entsetzt, ob sie Tom deshalb wirklich ermorden würde. Das darauffolgende Gelächter verwirrte sie nur noch mehr.
Der Nachmittag und der Abend vergingen wie im Flug und als Martin sich auf den Heimweg machen wollte, war es längst dunkel geworden. Mama stattete ihn mit Kuchen und Resten vom Abendessen für drei Wochen aus, verabschiedete sich tränenreich und Lisa begleitete ihn noch zum Auto.
„Danke, dass du uns nicht verraten hast“, sagte Lisa, als Martin den Proviant im Kofferraum seines Wagens verstaute.
„Nicht der Rede wert“, meinte dieser, „wir können das ja irgendwann mal aufklären, aber ich denke, das hat keine Eile.“
„Ich bin übrigens der Lösung des Rätsels ein ganzes Stück nähergekommen, vielleicht klärt es sich sogar schon heute Nacht. Das ist eine total verrückte Geschichte“, sagte Lisa.
„Noch verrückter als die Pinkelanekdote deiner Mutter?“, meinte Martin. „Du musst ihr verzeihen, Eltern sind so.“
„Oh Gott ja“, erwiderte Lisa, „das war peinlich.“
„Aber man sollte ihr zugutehalten, das es stimmte. Ich kann es bezeugen“, setzte Martin nach. „Eigentlich wolltest du aber eben etwas anderes erzählen.“
„Stimmt, wie gesagt, es klärt sich hoffentlich heute Nacht. Ich rufe dich morgen oder übermorgen an. Dann werde ich dir berichten.“
Martin wünschte Lisa daraufhin viel Glück für ihre, wie auch immer geartete Aktion in der Nacht, sie umarmten sich zum Abschied und Martin brauste in seinem schicken Auto davon.
Drinnen beschäftigten sich Lisas Mutter und Merle, der fast im Stehen die Augen zufielen, mit dem Abwasch, während Jannik fleißig draußen aufräumte und Dinge von der Terrasse hereinbrachte. Tom half ihm dabei.
Es dauerte noch eine Viertelstunde, bis Tom und Jannik die letzten Sachen hereingetragen hatten. Währenddessen beteiligte sich Lisa an den Aufräumarbeiten in der Küche, stellte sauberes Geschirr in die Küchenschränke, an die Merle nicht heranreichte und räumte Lebensmittel in den Kühlschrank.
„So“, sagte Tom schließlich, „das war’s, alles drinnen. Wir haben auch die Gartenmöbel abgedeckt, es soll ja in der Nacht ein Gewitter geben.“
Auf diesen Moment hatte Lisa gewartet. Sie ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen.
„Setzt ihr euch bitte mal zu mir? Ich muss mit euch reden.“
„Soll ich euch allein lassen?“, fragte Tom.
„Nein, bitte bleib.“ Lisa wollte Tom unbedingt zur Unterstützung an ihrer Seite wissen.
Merle fing an zu quengeln.
„Och nö, ich bin so müde. Ich will das erst morgen machen.“
„Entschuldige Merle. Es muss leider heute noch sein. Komm auf meinen Schoß, dann kannst du dich schon ein bisschen einkuscheln. Ich trage dich danach ins Bett, dann musst du nicht selbst laufen.“
Merle kletterte zu ihrer Schwester auf den Stuhl und rollte sich ein. Lisa hoffte nur, dass sie nicht vor Ende des Gesprächs einschlief.
Die anderen setzten sich dazu, wobei Lisa Tom auf den Stuhl neben sich manövrierte.
„Jetzt kommt die Erklärung, auf die du so lange gewartet hast, Mama“, begann Lisa. Sie erzählte alles, was Tom und sie in den letzten Tagen getan und herausgefunden hatten. Sie ließ dabei einige Details aus Rücksicht auf Merle weg und bat Tom Dinge zu ergänzen, wo es nötig erschien. Welche Rolle Martin dabei gespielt hatte verschwieg sie vorerst, um ihre Mutter nicht zu verärgern und auch, dass ihr Vater bei den Menschen auf der Lichtung war, hatte sie bisher ausgelassen. Tom war so schlau, dies zu bemerken.
Jannik und Merle hatten währenddessen wie gebannt zugehört und dabei immer größere Augen bekommen. Das kleine Mädchen saß jetzt kerzengerade auf Lisas Schoß.
„Und du hast wirklich den Pfarrer angelogen?“, fragte sie. „Das darf man doch nicht.“
Vermutlich erinnerte sie sich an die Unterhaltung mit Mama, nach Papas Beerdigung. Merle war damals sehr daran interessiert gewesen, was das für ein Mann war, und wofür er da war. Mama hatte ihr unter anderem erklärt, dass sie dem Priester in der Beichte immer die Wahrheit sagen durfte, egal was sie bedrückte und dass er es nicht weitersagen durfte.
Lisa stellte sich den Dorfpfarrer vor und beschloss, dass es auch andere Wege geben musste, ihre Sorgen loszuwerden.
„Das war nur eine Notlüge, das ist erlaubt“, antwortete sie.
Das machte Merle jedoch eher neugieriger als sie zufriedenzustellen.
„Was ist eine Notlüge?“, wollte sie wissen.
„Das erkläre ich dir morgen“, mischte Mama sich ein und rettete Lisa damit aus einer Verlegenheit.
„Jetzt kommen wir zu dem Plan für heute Nacht. Dafür brauche ich euer Vertrauen, denn das, was ich euch jetzt erzähle ist schwer zu glauben.“ Lisa machte eine Pause. Ihr Mund wurde trocken und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war plötzlich nicht mehr in der Lage zu sprechen.
„Lisa will heute Nacht mit euch allen in den Wald gehen“, kam Tom ihr zur Hilfe, kam sich aber gleich darauf total bescheuert vor, als er realisierte, was er gerade gesagt hatte. Genauso guckten ihn auch alle am Tisch an.
Zum Glück fand Lisa ihre Sprache wieder.
„Das soll so ablaufen: Mama und ich wecken euch heute Nacht ungefähr um ein Uhr. Dann zieht ihr euch warm an, vergesst eure Jacke nicht. Ich weiß, ihr denkt ‚Jacke bei der Hitze?‘, aber glaubt mir, ich habe das schonmal gemacht und es wird wirklich sehr kalt. Um zwei Uhr treffen wir uns mit einigen Leuten vor dem Haus. Ihr kennt sie nicht, aber macht euch keine Sorgen, ich habe sie eingeladen. Ich hoffe, sie kommen auch. Um die Uhrzeit ist es schon richtig kalt, wie im Winter. Gegenüber im Wald scheint ein ganz helles, blaues Licht. Keine Angst, das ist alles in Ordnung. Wir gehen dann gemeinsam in den Wald hinein, auf das Licht zu, bis zu einer Lichtung. Dort sind noch mehr Menschen. Sie warten da. Auf dieser Lichtung werdet ihr Papa wiedersehen.“
„Aber das geht doch gar nicht“, protestierte Merle. „Papa ist tot. Der wohnt jetzt auf dem Friedhof.“
„Doch“, sagte Lisa, in der Hoffnung, dass es auch stimmte, „Papa wird da sein.“
„Ist Papa ein Geist?“, fragte Merle.
„So etwas ähnliches“, bestätigte Lisa.
„So ein Schwachsinn“, platzte Jannik der Kragen. „Du willst uns verarschen, das ist aber nicht lustig.“
Er wollte aufspringen, doch Mama hielt ihn zurück.
„Jannik, deine Schwester hat Recht. Alles was sie erzählt entspricht der Wahrheit. Wir sind überhaupt nur hierhergezogen, weil euer Vater an dem gearbeitet hat, was Lisa und Tom herausgefunden haben. Er war nur noch nicht so weit gekommen. Wir werden in den Wald gehen und wir werden Papa auf dieser Lichtung treffen. Ich habe Papa zuerst auch nicht geglaubt, aber ihr wisst ja, wie er war, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Du warst schon einmal da, sagst du?“
Lisa nickte, während Jannik der Mund offenstand.
„Ich glaube dir“, sagte Mama, „dann ab ins Bett, wir treffen in ein paar Stunden Papa und da sollt ihr die Augen aufhalten können.“
Daraufhin scheuchte sie Lisas jüngere Geschwister die Treppe hoch und sorgte dafür, dass sie sich bettfertig machten. Im Vorbeigehen strich sie Lisa über den Rücken. Tom und Lisa blieben allein in der Küche zurück.
„Glaubst du, es war ein Fehler? Ich will diese Menschen nicht alle enttäuschen.“ Sie sah Tom an.
„Wir werden sehen. Willst du, dass ich mitkomme?“
„Gerne.“
Tom berührte für einen Augenblick Lisas Hand, dann schob er den Stuhl zurück.
„Ich komme um eins.“ Lisa hörte das Klacken der Haustür, als Tom sie ins Schloss zog.