Licht

Tag vier

Beim Aufwachen fragte Lisa sich, was ihr Gehirn nachts verarbeitete. In der Krankenkassenzeitschrift stand einmal ein Artikel darüber. Erholt fühlte sie sich jedenfalls nicht, zumal die Temperatur im Haus selbst nachts nicht mehr unter achtundzwanzig Grad fiel. Der Blick in den Kleiderschrank nervte sie ebenfalls. Auf der einen Seite stapelte sich die Winterkleidung, während auf der anderen gerade einmal noch zwei Unterhosen, zwei T-Shirts, eine kurze Hose, die sie eigentlich schon längst aussortieren wollte, weil sie am Bauch kniff und ein Paar Sneaker-Socken lag. Nur im Fach mit den Pyjamas waren noch ein paar Garnituren übrig.

Sie entschied sich dafür, die Hose von gestern noch einmal anzuziehen, obwohl diese nach Rauch stank, was hoffentlich noch verfliegen würde, griff sich Shirt und Unterhose und ließ die letzten Socken einsam zurück. Sie würde heute barfuß in die Sandalen schlüpfen.

Unter der Dusche ging ihr noch durch den Kopf, dass ihre Mutter früher nie so nachlässig beim Waschen gewesen war. Sollte sie sich um Mama Sorgen machen?

Als Lisa vor das Haus trat, wartete Tom schon. „Wie siehst du denn aus?“, fragte er entsetzt, was Lisas Stimmung nicht gerade hob.

Daher blieb ihre Antwort einsilbig. „Ich schlafe im Moment nicht besonders gut“, sagte sie nur.

Tom merkte, dass es besser war, nicht weiter nachzubohren.

„Können wir los?“, fragte er und setzte sich auf ihr Kopfnicken hin in Bewegung. Sie liefen zu Fuß bis zur Bushaltestelle unten an der Hauptstraße, um ihre Fahrräder dort nicht unbeaufsichtigt zurücklassen zu müssen. Lange mussten sie nicht auf den Bus warten.

Zuhause hatten sie erzählt, dass sie heute unbedingt zu zweit in die Stadt fahren wollten. Lisa hatte tunlichst vermieden zu erwähnen, in welche Stadt, Herr Seller lebte rund hundert Kilometer entfernt. Wie erwartet, war Lisas Mutter strikt dagegen. Mit viel Mühe hatten sie sie aber noch beim Grillen davon überzeugt, dass es für so einen Ausflug nicht zu heiß war und dass es ökologisch am sinnvollsten war, den Bus zu nehmen. Schließlich hatte Lisas Mama sogar ihr Drängen aufgegeben, die beiden mit dem Auto zu fahren. Tom musste nur versprechen, auf Lisa aufzupassen, wie altmodisch. Auf welche Weise Tom seine Großeltern überzeugt hatte, war Lisa nicht bekannt, denn das hatte er heute Morgen beim Frühstück erledigt.

Sie zeigten dem Fahrer ihre Abo-Fahrkarten und verzogen sich in den hinteren Teil des Buses. Hier konnten sie sich ungestört unterhalten. Sie waren die einzigen Fahrgäste. Tom ließ sich stöhnend auf einen der Sitze fallen und stellte den Rucksack mit den Brötchen neben sich ab. Lisa nahm ihm gegenüber Platz. Tat das gut. Der Bus hatte eine Klimaanlage und die kalte Luft, die aus den Lüftungsschlitze an der Decke herabfiel, bereitete Lisa eine Gänsehaut.

Lisa ergriff als erste das Wort. Ihre Stimmung begann sich merklich aufzuhellen.

„Mein Vorschlag ist folgender. Wir bitten Herrn Seller als erstes, zu erzählen, warum er sich mit mir treffen wollte. Ich habe nämlich, ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Ich kenne ihn nur flüchtig von Papas Beerdigung. Mal sehen, warum er mit mir reden will. Danach fragen wir ihn gnadenlos nach seinen früheren Recherchen im Dorf aus. Diesmal aber wirklich, ich will mit Antworten nach Hause gehen.“

„Na, dann drücke ich die Daumen, dass uns das gelingt“, pflichtete Tom bei. Damit war alles gesagt und Tom und Lisa sahen den Rest der Fahrt aus dem Fenster, ließen die sommerliche Landschaft an sich vorbeigleiten und genossen die Kühle der Klimaanlage.

Als sie am Bahnhof ausstiegen, knallte ihnen die heiße Luft entgegen, als schlage ihnen jemand mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Lisa kniff kurz die Augen zu. Die zwei Teenager bereuten sofort, dass die Klimatisierung im Bus auf so niedrige Stufe gedreht war. Sie taumelten in den Schatten des nächsten Hauses und orientierten sich. Tom schaute auf sein Smartphone. Der Zug fuhr in circa zwanzig Minuten ab. Eine Fahrkarte mussten sie nicht kaufen, ihre Schüler-Tickets galten auch auf dieser Strecke noch, also blieb noch etwas Zeit. Tom fühlte, dass er bald an einem Kreislaufzusammenbruch sterben würde. Und es war noch nicht einmal neun Uhr.

„Du hast nicht zufällig daran gedacht, etwas zu trinken mitzunehmen?“, fragte Lisa. Der Satz klang merkwürdig lallend, weil ihre Zunge wie ein dicker Kloß in ihrer Mundhöhle klebt.

Tom schüttelte den Kopf, zeigte aber auf das Bahnhofsgebäude, in dem sich glücklicherweise ein Supermarkt befand. Sie überquerten den Platz und betraten den Laden. Dabei umrundeten sie einen Obdachlosen, der mit einem Pappbecher vor sich, im Eingangsbereich auf dem Boden saß und vergeblich auf Kundschaft wartete, die ihn vielleicht mit einer Münze bedachte.

Mineralwasser gab es nur noch im Sechserpack. Toll, 9 Liter Mineralwasser. Lisa freute sich schon aufs Schleppen. Sie griff sich eins und stiefelte zur Kasse. Auch hier war die Klimaanlage viel zu niedrig eingestellt und Lisa malte sich den erneuten Schlag ins Gesicht aus, wenn sie gleich wieder auf die Straße treten würden. Währenddessen zog die gelangweilte Kassiererin die Wasserflaschen in Zeitlupentempo über den Scanner. Es piepste.

„Ein Euro vierzehn.“ Lisa war froh, dass die Frau während der Preisauskunft nicht eingeschlafen war. Sie zählte das Geld passend ab und reichte es der untermotivierten Angestellten. Direkt hinter der Kasse riss sie die Verpackung auf und nahm eine Flasche heraus. Den Rest drückte sie Tom in die Hand. Im Hinausgehen ließ Lisa das Wasser in langen Zügen ihre Kehle hinunterlaufen.

Tom folgte ihr. Er entnahm der Folie auch eine Flasche für sich und stellte dem verdutzten Obdachlosen die verbleibenden vier Flaschen neben den Pappbecher.

„Es ist heiß“, sagte er, verabschiedete sich und ging an Lisa vorbei. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es Zeit wurde, sich auf den Bahnsteig zu begeben.

Die Zugfahrt war fürchterlich. Als sie einstiegen schlug ihnen eine Welle aus Hitze, Plastikgeruch, Schweiß und verschiedenen Deosorten entgegen. Lisa wurde spontan übel. Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung und aus dem Lautsprecher schallte eine quäkige Stimme, mit der oberflächlichen Entschuldigung der Bahn, dass die Klimaanlage wegen der hohen Temperaturen ausgefallen war. Keiner der wenigen Passagiere schien von der Ansage Notiz zu nehmen, geschweige denn, darüber verwundert zu sein. In dem Wagon herrschte eine drückende Stille, niemand unterhielt sich. Manche starrten in ihr Handy, andere hörten über Kopfhörer Musik, die meisten schauten nur lethargisch aus dem Fenster. Auch Tom und Lisa schwiegen und nippten gelegentlich an ihrem Mineralwasser.

Nach einer Ewigkeit hielt der Zug und die beiden stiegen aus. Tom zog sein Telefon für die Navigation zu Rate und sie setzten ihren Weg quer durch die Innenstadt zu Fuß fort.

Endlich standen sie vor ihrem Ziel. Herr Seller wohnte in einem schönen Altbau mit einer weiß-grauen, stuckverzierten Fassade. Sie klingelten und als der Öffner summte, drückten sie die Tür auf. Im Hausflur war es kühler als draußen. Sie erklommen die Treppe zur ersten Etage, wo Herr Seller schon in der Wohnungstür auf sie wartete.

„So ein Glück, da seid ihr ja, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich wollte gerade deine Mutter auf dem Handy anrufen, ob ihr irgendwo im Verkehr stecken geblieben seid. Wo ist sie eigentlich? Sie kann doch mitfrühstücken.“

Lisa und Tom sahen sich an.

„Wir sind mit dem Zug da“, sagte Lisa nur kurz.

„Oh Gott, bei der Hitze? Aber dann hätte ich doch lieber zu euch kommen können“, meinte Herr Seller darauf.

„Schon gut, halb so schlimm“, erwiderte Lisa und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Tom fast laut los „puh“ sagte.

„Ach, wie unhöflich von mir. Jetzt kommt doch erstmal rein. „Hallo Lisa.“ Erhielt zuerst ihr und dann Tom die Hand hin. „Ich bin Martin. Und du bist Lisas Freund, nehme ich an?“

„Tom“, entgegnete dieser leicht verlegen.

Martin lief voraus. „Seht euch ruhig um. Ich kümmere mich nur schnell um die Eier. Ihr mögt doch Frühstückseier, oder?“

Die Teenager bejahten die Frage. Dann reckte er den Kopf um den Türrahmen. „Hart- oder weich gekocht?“

„Weich.“

„Ich auch.“

Der Kopf verschwand wieder.

Die Wohnung war groß und hell. die hohen Decken waren an den Rändern mit Stuck verziert, in der Mitte des Wohnzimmers mit einem StuckrondeIl, von dem ein imposanter Kristallleuchter herabhing. Insgesamt war die Wohnung mit modernen Möbeln eingerichtet, die einen stilvollen Kontrast zu den Altbauräumen mit dem Parkett und den großen Fenstern bildeten. Alles war sehr sauber.

„Frühstück ist fertig“, kam es aus der Küche. „Wir haben nur noch nichts, wo wir Wurst und Käse drauflegen können.“

Tom beeilte sich, Martin die Brötchen zu bringen. „Vom besten Bäcker der Welt. Ich habe von allem etwas mitgebracht, normale, Körnerbrötchen, ich wusste ja nicht, was sie mögen.“

„Vom besten Bäcker der Welt?“, fragte Martin, „da bin ich mal gespannt. Es wird bestimmt etwas für mich dabei sein. Und sag bitte du zu mir, sonst komme ich mir so alt vor.“

Lisa und Tom setzten sich. Auch die Küche war geschmackvoll eingerichtet. Weiße Flächen waren mit Holz kombiniert. Die Wohnung gefiel Lisa. Martin hatte den Tisch reich gedeckt. Tomaten, Gurken, Käse, Aufschnitt, Mett, rohe Zwiebeln, Butter, Quark, Honig, Marmelade, Orangensaft, Kaffee, Tee, Milch, Kakao und vieles mehr breiteten sich vor ihnen aus. Zusammen mit Toms Brötchen würden sie bis übermorgen frühstücken können.

Martin sah Lisas schweifenden Blicke und sagte entschuldigend, „ich wusste auch nicht, was ihr mögt.“ Er stellte den Korb mit den Eiern auf den Tisch und setzte sich dazu.

„Grüß deine Mama von mir, wenn du wieder zuhause bist“, meinte er dann zu Lisa, „ich melde mich bald mal.“ Er sah Toms und Lisas kurzen Blickwechsel und kombinierte, „sie weiß überhaupt nicht, dass ihr hier seid.“

„Sie denkt, wir machen einen Einkaufsbummel.“ Lisa schaute verlegen auf die Butter vor ihr.

„Und deine?“ Martin sah Tom an.

„Das gleiche, das heißt, meine Großeltern. Ich lebe bei meinen Großeltern.“ Auch Tom entwickelte ein gesteigertes Interesse an der Butter.

„Verstehe.“ Martin dachte einen Moment nach. „Aber warum hast du deiner Mama denn nicht erzählt, dass ihr zu mir fahrt?“

„Ich wollte nicht, dass sie es verbietet. Dafür ist dieses Treffen zu wichtig.“

„Jetzt dämmert es mir“, sagte Martin ruhig. „Erinnerst du dich nicht mehr an unser Gespräch auf der Beerdigung?“

Lisa schüttelte den Kopf. „An dem Tag habe ich fast gar nichts mitbekommen.“

„Ich habe dir am Grab gesagt, dass ich ein guter Freund deines Vaters war und dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du Unterstützung brauchst. An das letzte Mal, dass wir uns davor gesehen haben, hast du vermutlich keine Erinnerung mehr. Du warst erst zwei oder drei Jahre alt. Damals hatte ich viel Kontakt zu deinen Eltern. Du hast dich immer sehr gefreut, wenn ich zu Besuch gekommen bin. Du bist mir strahlend auf deinen kleinen Beinchen entgegengerannt und hast gerufen, ‚da, Böh-Martin‘. Wir haben nämlich immer ‚Kuckuck-Böh‘ gespielt. Oft hast du deine Mama sogar so lange genervt, bis sie dich bei mir anrufen ließ, um zu fragen, wann ich endlich wiederkäme. In deiner Sprache hieß das ‚wann Böh-Martin?‘“

Martin steckte Tom den Zeigefinger ins Gesicht. „Wehe, du verwendest das gegen sie. Dann finde ich etwas über deine Kleinkinderzeit heraus und veröffentliche es im Internet.“

„Kurz danach bin ich beruflich nach Süddeutschland gezogen“, nahm Martin seine Erzählung wieder auf. „Dann war ich für zehn Jahre in den USA. Ich war nur mal kurz für Recherchen in Deutschland, war auch mal auf ’nen Kaffee bei deinen Eltern, ich meine, du hattest aber Schule. Schade, ich hätte dich nämlich gerne wiedergesehen. Der Artikel, den ich damals geschrieben habe, ist auch in einer deutschen Zeitung erschienen, aber ziemlich verstümmelt. Das meiste haben sie weggekürzt. Ich bin erst seit Anfang des Jahres wieder hier. Deshalb sieht es hier auch aus wie im Möbelhaus. Ich musste alles neu kaufen.“

Lisa sah sich erneut um. Es gefiel ihr wirklich gut hier. Martin hatte Geschmack. Sie schnitt sich eines von den Roggenbrötchen auf und bestrich es mit Butter. Während sie es mit einer Scheibe Käse belegte, stopfte Tom gerade das letzte Stück seines dritten Brötchens in sich hinein. Dann machte er sich über ein Frühstücksei her.

„Martin, hast du auch Salz?“, murmelte er mit vollem Mund.

„Ja klar, habe ich vergessen hinzustellen.“ Martin stand auf und holte das Salz von der Küchenanrichte. Er brachte auch einen großen braunen Briefumschlag mit, den er neben sich auf den Tisch legte. „Lisa, es hat einen Grund, warum ich mit dir reden wollte“, setzte er erneut an, „und es fällt mir ehrlich gesagt schwer, es dir zu sagen. Deiner Mutter habe ich schon davon erzählt, aber ich fand, du bist alt genug, um es persönlich von mir zu erfahren. Daher habe ich deine Mama gebeten, dir noch nichts zu sagen, bis ich die Gelegenheit hatte, mit dir zu sprechen.“

Lisa schaute ihn fragend an. Tom hörte auf zu kauen.

„Lisa, dein Papa war auf dem Weg zu mir, als er verunglückt ist. Ich wollte ihm diese Unterlagen zukommen lassen, war aber total im Terminstress. Ich hätte ihm einfach eine E-Mail schreiben können, aber die Zeit habe ich mir nicht genommen. An dem Morgen hat er angerufen und gesagt, es wäre so schönes Wetter, er käme kurz auf einen Kaffee vorbei und hole sie sich ab. Lisa, wegen mir ist er an diesem Tag überhaupt aufs Motorrad gestiegen.“

Lisa sah ihn ruhig an. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, …“ Sie unterbrach sich, um nachzudenken. Nach einer Weile sprach sie weiter. „Ich habe auch schon viel darüber nachgedacht, was wäre gewesen, wenn und so.“ Sie schluckte. „Es ist scheiße, dass Papa tot ist, aber ich kann das nicht ändern. Niemand kann das. Weißt du, was er mal zu mir gesagt hat, als ich auf einen Baum klettern wollte, mich aber nicht getraut habe, weil ich Angst hatte runterzufallen. Er hat gesagt, ‚wenn du was machen willst, mach es. Sei vorsichtig, aber mach es. Wenn du allen Gefahren im Leben aus dem Weg gehen willst, kannst du dich genauso gut hinlegen und gleich sterben. Das ist kein Leben‘. Ich kann mich deshalb noch wörtlich daran erinnern, weil ich tagelang darüber nachgedacht haben. Er hatte auch immer so blöde Sprüche drauf wie ‚das Leben ist hart und ungerecht und am Ende steht immer der Tod‘ oder ‚am Ende wird alles gut, wenn es noch nicht gut ist, ist es auch noch nicht das Ende‘.  Solche Sprüche hat er geliebt. Du kannst nichts dafür. Ich glaube, er wäre an diesem Morgen in jedem Fall aufs Motorrad gestiegen.“

Thomas nickte. „Man merkt, dass du ein Kind deiner Eltern bist. Deine Mutter hat etwas ganz ähnliches gesagt.“

Alle schwiegen. Nur Tom kaute an einem weiteren Brötchen. Lisa fragte sich, wie er nur so viel verdrücken konnte.

„Und?“, fragte Martin.

„Was ‚und‘? „, fragte Lisa zurück.

„Bist du auf den Baum geklettert?“

„Ja.“

„Schön.“

„Und ich bin runtergefallen“, ergänzte Lisa, „ist aber nichts passiert.“

Nach einer Weile, in der auch Martin sich mit etwas zu essen versorgte, fragte sie, „darf ich mir anschauen, was in dem Umschlag ist?“

„Klar“ antwortete Martin und reichte ihr das Couvert. „Die Geschichte ist aber auch ziemlich traurig. Dein Vater hat diese junge Frau gesucht. Ich sollte für ihn herausfinden, wo sie ist. Es war wohl dringend. Früher haben wir uns oft gegenseitig bei Recherchen geholfen. Dein Papa und ich haben zusammen studiert. Er sagte, sie sei vielleicht hier in der Stadt.

Das ist, was ich in Erfahrung gebracht habe. Sie ist tot, Überdosis. Gerade einmal achtzehn Jahre ist sie alt geworden. Da unten steht die Adresse ihrer Eltern, das heißt, eigentlich nur ihrer Mutter. Ihre Eltern haben sich nach ihrem Tod getrennt.“

Lisa las die Anschrift und stutzte. Sie hielt das Blatt Tom hin, der aufhörte zu kauen.

„Das ist ja bei Trudi in der Straße“, meinte Tom verblüfft.

„Ja, das Mädchen kam aus eurem Dorf. Möglicherweise hat dein Papa sich deshalb für sie interessiert. Er hat sich überhaupt sehr für das Dorf interessiert. Merkwürdig, dass ihr gerade dahingezogen seid.“

„Warum?“, hakte Tom nach.

„Nichts für ungut Tom, aber ich habe dort damals für den Artikel recherchiert, den ich vorhin erwähnt habe und die Bewohner sind nicht gerade für ihre Aufgeschlossenheit Fremden gegenüber bekannt.“

„Auch nicht gegenüber Anwohnern“, bemerkte Lisa, „das ist nämlich der Grund, weshalb wir hier sind. Wir hatten gehofft, dass du vielleicht noch alte Unterlagen zu deinen Nachforschungen hast. Wir sind da einer ganz komischen Sache auf der Spur, kommen aber nicht weiter, weil im Dorf keiner mit uns reden will.“

„Du meinst die Geschichte mit den umherlaufenden Toten? Da beißt ihr euch die Zähne aus. Keine Ahnung, was das auf sich hat.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Und nach den Unterlagen suchst du am besten zuhause, die habe ich nämlich schon vor Monaten deinem Papa geschickt.“

Lisa beschlich eine Ahnung. Warum war sie nicht früher darauf gekommen?

„Ich vermute, ich kenne den Grund, warum wir in dieses Dorf gezogen sind. Wäre es vielleicht möglich, dass mein Papa genau wegen dieses Rätsels dort wohnen wollte? Das macht es doch viel leichter diese störrischen Bewohner, ‚tschuldigung Tom, auszufragen.“

„Das sähe ihm auf jeden Fall ähnlich“, sagte Martin. „Er war früher schon immer sehr hartnäckig, wenn es um seine Arbeit ging, und Widerstand hat ihn eher angespornt.“, meinte Martin, „aber da fragst du am besten deine Mutter. Deine Eltern müssen das besprochen haben. Ich denke nicht, dass dein Papa gesagt hat, ‚übrigens Schatz, wir ziehen an den Arsch der Welt‘, Verzeihung Tom, und sie hat geantwortet, ‚klar Liebling, ich fange dann mal an zu packen‘. Die Entscheidung haben die beiden garantiert gemeinsam getroffen.“

„Stimmt, das haben sie sogar erwähnt“, erinnerte sich Lisa. „Und du bist sicher, dass Papa deine Unterlagen hat?“

„Ganz sicher. Er hat mir sogar per Mail bestätigt, dass sie angekommen sind. Es war ein dickes Päckchen. Deshalb kann ich dir jetzt auch nicht weiterhelfen. Ich habe ihm alles, was ich hatte geschickt.“

Tom kaute wieder genüsslich. Bestimmt würde er gleich platzen. „Dann guck doch zuhause einfach mal nach“, warf er ein. „Oder frag deine Mama, die weiß doch sicher, wo das Zeug sein könnte.“

„Ich glaube, das muss ich gar nicht.“ Lisa hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Das Arbeitszimmer. Dass sie noch nicht früher darauf gekommen war. Papa wollte unbedingt in das Dort ziehen, er war im Kirchenarchiv, hatte mit Trudi gesprochen, sich die Unterlagen von Martin besorgt. Er war offensichtlich an der gleichen Geschichte dran gewesen. Wo hatte er wohl all seine Ergebnisse zusammengetragen? Sie wurde plötzlich ganz kribbelig. „Vielen Dank Martin, du hast aus wirklich sehr geholfen“, sagte sie. „Tom, iss auf, wir müssen gehen. Tut mir leid, dass ich so drängele, danke auch für das Frühstück, das war toll, aber ich muss dringend etwas überprüfen.“

Sie stand auf und war bereits auf dem Weg zur Tür, da unterbrach Tom sie.

„Jetzt warte mal, ich bin noch überhaupt nicht mit dem Essen fertig. Warum musst du eigentlich immer fluchtartig überall verschwinden?“

„Komm schon“, antwortete Lisa genervt, „du wirst schon nicht verhungern. Du hast sowieso Essen für drei Tage in dich hineingestopft.“

Tom wollte gerade zu einer ärgerlichen Bemerkung ansetzen, da ging Martin dazwischen.

„Nicht streiten, Leute. Bleib sitzen und iss in Ruhe zu Ende Tom und du musst dich auch nicht beeilen Lisa. Ich fahre euch. Es ist eh viel zu heiß und so seid ihr auch früher zuhause.“

Eine Viertelstunde Später saßen sie in Martins Auto und befanden sich auf dem Heimweg. Tom fühlte sich angenehm gesättigt und die Klimaanlage des Autos brachte die Temperatur schnell auf ein vernünftiges Niveau, was Tom gegenüber Lisas Taktlosigkeit von eben milde stimmte. Er und Martin unterhielten sich angeregt über Fahrräder, und die Vor- und Nachteile von Mountainbikes gegenüber Renn- oder Trekkingrädern. Lisa hingegen saß schweigsam auf dem Beifahrersitz und wirkte immer bedrückter. Tom und Martin wechselten einen Blick im Rückspiegel.

„Was ist los?“, fragte Martin schließlich.

„Du hast gesagt, dass mein Vater auf dem Weg zu dir war, als es passiert ist“, antwortete Lisa. „Ist das die Straße, auf der er verunglückt ist?“

„Oh Lisa, daran habe ich nicht gedacht. Ja, das ist tatsächlich die Straße“, sagte Martin zerknirscht.

„Sind wir an der Stelle schon vorbei? Weißt du, wo es passiert ist?“

„Wir sind noch nicht vorbei. Bis dahin sind es noch ein paar Kilometer. Soll ich umdrehen und eine andere Strecke nehmen?“

„Nein. Ich möchte es sehen. Können wir dort anhalten?“

„Es ist schwierig. die Stelle liegt in einer Kurve, aber ich kann es versuchen.“

Jede Minute, die sie weiterfuhren und je näher sie der Unfallstelle kamen, desto heftiger schlug Lisas Herz. Gleichzeitig presste der Brustkorb ihre Lungen immer weiter zusammen, bis sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können, während ihr Blut schmerzhaft in Hals und Kopf gepumpt wurde. Als sie gerade dachte, es nicht mehr aushalten zu können, setzte Martin den Blinker und steuerte das Auto in einen kleinen Feldweg auf der rechten Seite.

„Da vorne ist es“, sagte er und stellte den Motor ab.

Lisa riss die Wagentür auf und stürzte nach draußen. Die heiße Luft ließ sich noch schwerer atmen, als die im Auto. Lisa stützte sich mit beiden Händen auf dem Wagendach ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nachdem sie sich ein paar Minuten darauf konzentriert hatte zu atmen und sich wieder zu beruhigen, setzte sie sich in Bewegung. Martin und Tom waren inzwischen ebenfalls ausgestiegen und sahen ihr schweigend nach.

Lisa überquerte die Landstraße und stieg auf der anderen Seite über den Stacheldraht. Momentan stand kein Vieh auf der Weide. Als sie die Wiese entlang in Richtung Unfallstelle lief, musste sie die Beine ziemlich weit heben, so lang war das Gras. In Höhe der Kurve erreichte sie eine Stelle, an der der Boden aufgewühlt und tief zerfurcht war. Dort lag ein einzelner Zaunpfosten, an dem noch etwas abgerissener Stacheldraht hing. Dies musste die Stelle sein, wo das Motorrad den Weidezaum durchschlagen hatte. Eine große Lücke klaffte in dem Zaun. Lisa stieg die Böschung zur Straße hoch.

Es war jetzt zwar schon mehr als zwei Monate her, aber auch hier waren die Spuren des Unfalls noch deutlich zu erkennen. Lisa fand am Rand winzige, in der Mittagssonne weiß und orange glitzernde Splitter von Scheinwerfer- und Blinkergläsern, die nach dem Unfall von der Fahrbahn gefegt worden waren. Sie fand sogar ein kleines Stück Plastik, das eindeutig zur Verkleidung des Motorrades ihres Vaters gehört hatte. Sie hob es auf und drehte es zwischen den Fingern. Ohne Zweifel, das war der dunkelblaue Lack der Maschine. Zuerst wollte sie es wieder wegwerfen, steckte es dann aber doch ein.

Dann nahm Lisa die Fahrbahn näher in Augenschein. Überall in der Kurve waren mit hellgrauem Lack Markierungen und Zahlen auf den Asphalt gesprüht. Lisa erkannte die Stelle, an der der LKW zum Stehen gekommen war und auch den Punkt, wo ihr Vater gelegen hatte.

Lisa fing an zu weinen. Zuerst nur leise, dann aber immer heftiger. Sie merkte, dass sie es nicht mehr zurückhalten konnte. Sie bemerkte nicht, wie Tom vorsichtig von hinten an sie herantrat. „Darf ich dich in den Arm nehmen?“, war das Einzige, was er fragte.

Lisa drehte sich zu ihm um, nickte nur und warf sich schluchzend in seine Arme. Tom umschloss sie behutsam mit den Händen und hielt sie fest. Dann wartete er, bis der Weinkrampf aufhörte Lisa zu schütteln und sie wieder ruhiger atmete. Als Lisa sich von ihm löste, fuhr ein Auto hupend vorbei.

Tom zeigte dem durch die Scheibe hindurch wild fluchenden Fahrer den Mittelfinger und fragte Lisa gleichzeitig, „willst du noch bleiben?“

„Nein, lass uns gehen“, antwortete sie.

„Alles okay? Kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte Martin, als sie wieder bei seinem Auto ankamen.

Lisa schüttelte den Kopf. „Nein, geht schon. Lass uns weiterfahren.“

Unten im Dorf angekommen, bat Lisa Martin, auf dem Platz vor Terry’s anzuhalten.

„Wenn es dir nichts ausmacht, gehen wir von hieraus zu Fuß“, meinte sie, „das vermeidet den Ärger, wenn Mama rauskriegt, dass ich sie angeschwindelt habe.“

„Verstehe“, sagte Martin, „aber demnächst treffen wir uns mal offiziell, ich rufe mal an, wann es geht.“ Er setzte die beiden Jugendlichen ab und brauste gleich wieder davon.

„Jetzt hatte ich auch noch ein Mittagessen“, bemerkte Tom und spuckte etwas von dem aufgewirbelten Staub aus.

„Stell dich nicht so an und komm“, wies Lisa ihn zurecht und bedeutete ihm, ihr zu folgen. „Ich habe dir noch etwas zu erzählen.“ Mit schnellen Schritten erklomm sie die Straße den Hügel hinauf.

Tom grinste. Er war froh, dass Lisa wieder zu Ihrer alten Form zurückgefunden hatte.

„Vorhin an der Unfallstelle“, setzte Lisa an, nachdem Tom zu ihr aufgeschlossen hatte.

„Schon gut“, unterbrach dieser sie.

„Das meine ich nicht“, ging Lisa wieder dazwischen. „Vorhin an der Unfallstelle, ich war schon mal da.“

„Aber warum hast du Martin dort noch einmal halten lassen? Es muss doch schwer sein, sich das immer wieder anzusehen.“

„So meine ich das nicht. Ich war mit meinem Vater da, bei dem Unfall.“

„Das verstehe ich nicht.“ Tom Blieb stehen und sah Lisa verwirrt an.

Lisa stoppte ebenfalls. „Ich habe davon geträumt. Nicht so ein gewöhnlicher Traum, wenn man etwas verarbeitet, in dem sich das Gehirn selbst etwas zusammenreimt. Ich habe den Unfall miterlebt, in der zeitlich richtigen Reihenfolge, in allen Einzelheiten, sowohl aus Sicht des LKW-Fahrers als auch aus der meines Papas. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe vorhin die Landstraße wiedererkannt, als wir darauf zugefahren sind, die Kurve, ich hätte dir sogar ohne die Markierungen genau die Stelle des Aufpralls zeigen können. Ich habe diesen Traum seit Wochen. Ich erlebe den Unfall immer wieder.“

„Verrückt“. Tom schaute sie mit offenem Mund an.

„Tom, ganz ehrlich, glaubst du mir, oder verliere ich den Verstand?“

Er fasste sie bei beiden Schultern. „Lisa, ganz ehrlich, Minusgrade im Juli, blaues Licht in der Nacht, Menschen, die umherlaufende Tote sehen, ich kann kaum noch beurteilen, was real ist, aber ich habe noch nie ein Mädchen mit so einem scharfen Verstand getroffen. Wenn du sagst, dass du es glaubst, dann tue ich es auch.“ Er dachte kurz nach. „Das mit den Mädchen klang jetzt ziemlich diskriminierend, oder?“

Lisa ging nicht darauf ein. „Okay, dann erzähle ich dir noch etwas. In letzter Zeit habe ich noch mehr dieser realistischen Träume. Was ist, wenn die auch real sind?“

„Wie gesagt“, Tom hatte sie inzwischen wieder losgelassen, „ich halte mittlerweile alles für möglich, also sollten wir das überprüfen. Sollen wir jetzt erstmal weitergehen, bevor wir als eingetrocknete Flecken auf dem Asphalt enden?“

Lisa lachte. „Eine gute Idee.“

Oben vor den Häusern angekommen verabschiedeten sie sich fürs Erste. Lisa wollte zuerst allein in das Arbeitszimmer Ihres Vaters gehen und Tom später dazu holen.

Als Lisa das Gartentor öffnete, sah sie ihre Mutter mit einem Glas Saft auf der Haustreppe sitzen. Mamas Blick wanderte über den Bauerngarten. Als sie Lisa sah, lächelte sie.

„Dein Garten ist wunderschön“, sagte sie.

„Vielleicht darf ich den von Toms Großeltern auch bepflanzen“ antwortete Lisa.

„Keine Taschen?“ fragte ihre Mama. „Hatten alle Geschäfte zu?“

„Nein, natürlich nicht, aber ich habe nichts schönes gefunden.“ Lisa ging schnell ins Haus, um sich nicht zu verraten, dabei irritierte sie etwas am Blick ihrer Mutter. Das war nicht Zweifel, sondern eher Erleichterung, merkwürdig.

Lisa stieß die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters auf. Sie trat ein und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Nun stand sie mitten im Zimmer und sah sich um. Links unter dem Fenster zum Garten stand Papas alter Schreibtisch, den er so sehr geliebt hatte. Das dunkle Eichenholz glänzte im Licht. Die Wand rechts bedeckte ein langes Bücherregal, welches bis zur Decke reichte. Es war überfüllt mit Büchern und Aktenordnern. Überall im Raum standen noch zum Teil geöffnete aber unausgepackte Umzugskartons herum.

An der gegenüberliegenden Wand hing eine riesige Pinwand. Sie war mit zahlreichen Fotos, Zeitungsartikeln und Notizen bedeckt. Bei näherer Betrachtung erkannte Lisa das System, nach dem ihr Vater sie sortiert hatte. Die Korkwand war mit rotem Bindfaden, der zwischen Pinnnadeln gespannt war in vier Spalten unterteilt, so dass die zusammengehörigen Informationen in den jeweiligen Spalten untereinander hingen. Oben in jeder Spalte gab es einen Zettel mit einer kurzen Personenbeschreibung. In der letzten Spalte fehlte diese. Sie war für Notizen und Anmerkungen vorgesehen. Lisa begann, alles systematisch in Augenschein zu nehmen. Ganz links hing die Beschreibung eines älteren Mannes, mittelgroß, graue Haare, also recht gewöhnlich. Überschrieben war sie mit dem Namen Robert Arnold. Lisa erinnerte sich an den Nachnamen. Das musste Trudis verstorbener Ehemann sein. Darunter hing die Kopie eines Zeitungsartikels, in dem es um seinen Suizid ging. Lisa überflog ihn. Darin wurde darüber berichtet, dass Robert A. von seiner Ehefrau, also Trudi, erhängt in seiner Garage aufgefunden wurde. Am Ende des Artikels wurde noch erwähnt, dass sich Menschen mit Selbsttötungsgedanken an eine Beratungsstelle wenden sollten, um psychologische Hilfe zu bekommen. Unten in der Spalte heftete noch ein Zettel mit den Geburts- und Todesdaten des Mannes.

In der nächsten Spalte hingen nur die Beschreibung einer Frau, die Lisas Vater auf Mitte sechzig schätzte und ein Blatt Papier mit einem großen Fragezeichen darauf.

Lisas Blick wanderte weiter nach rechts. Hinter dem Namen Tiffi, ohne Nachnamen, prangte wieder ein Fragezeichen. Darunter war eine Frau um die 18 Jahre beschrieben. Auch hier fehlten weitere Einzelheiten. Es war nur ein Postie neben den Namen geklebt mit der Notiz ‚überprüfen‘.

Zuletzt betrachtete Lisa die Spalte ganz rechts, die mit ‚Verschiedenes‘ überschrieben war. Diese Rubrik wirkte etwas unaufgeräumt. Ganz oben hing ein Notizzettel mit der Aufschrift ‚Martin anrufen. Wichtig!‘ und seiner Telefonnummer.

Außerdem hefteten darunter mehrere Fotos, die die Lichtung sowohl bei Tag als auch bei Nacht zeigten, inklusive des blauen Lichts, jedoch ohne Menschen darauf. Ein weiteres Postie wies darauf hin. Auf ihm stand, ‚da waren Menschen‘. Um der Aussage mehr Nachdruck zu verleihen, hatte ihr Vater drei dicke Ausrufezeichen dahinter gemalt.

Daneben hing ein zusammengehefteter Packen Ausdrucke, den Lisa durchblätterte. Es waren die Messdaten der Wetterstation oben auf dem Hügel der letzten zwölf Monate vor dem Unfall ihres Vaters. Darin waren vier Stellen mit Textmarker angestrichen. Bei dreien handelte es sich um Einzeldaten. Dort waren jeweils die Zeiten zwischen ein und vier Uhr nachts markiert. In diesem Zeitraum sank die Temperatur jeweils bis auf exakt minus sieben Grad, blieb dort zwischen zwei und drei für eine Stunde konstant und stieg dann langsam wieder auf die ursprüngliche Nachttemperatur an, die in allen drei Nächten weit darüber lag. Bei der vierten Markierung handelte es sich um einen längeren Zeitraum im Winter, während dessen es kälter gewesen war. Er war mit einem Fragezeichen versehen. Ein Datum auf der Deckseite das Packens zeigte an, dass Lisas Papa die Messdaten erst in der Nacht vor seinem Tod ausgedruckt hatte.

Auf einem DIN-A4-Blatt, welches ganz unten angepinnt war, hatte ihr Papa ein paar Fragen an sich selbst festgehalten.

Lisa las sie laut vor. „Wer ist die ältere Frau? Junge Frau: Ist das wirklich Tiffi? Ist sie tot? Warum nur drei? Warum sind sie da? Wann erscheinen sie? Was hat die Temperatur damit zu tun? Was ist das für ein Licht?“ Das waren die gleichen Fragen, die sie sich auch stellte, nur hatte sie sechs Personen auf der Lichtung gesehen. Die Beschreibungen auf der Pinnwand trafen auf drei von ihnen zu. Es waren also noch drei Menschen hinzugekommen. Wer waren diese Menschen?

Lisa zog den Stuhl zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Vor ihr auf der Tischplatte lag ein großer, brauner, aufgerissener Umschlag. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Er war an ihren Vater adressiert. Als Absender war nur ‚Tiffi‘ oben links auf den Umschlag gekritzelt. Insgesamt war die Schrift sehr unleserlich. Außerdem klebten mehrere Vermerkaufkleber der Post auf dem Umschlag. Daraus ging hervor, dass das Päckchen in dem Versuch es zuzustellen mehrfach hin und her geschickt worden war.

Lisa schaute hinein. Sie zog ein Buch aus dem Briefumschlag. Auf die Front war ein abgerissener Zettel geklebt, auf dem in der gleichen krakeligen Schrift ‚Bitte helfen sie mir. Meine Mutter glaubt mir nicht.‘ geschrieben war.

Es handelte sich um ein eher kleines Buch. Der Buchdeckel war im Stil eines historischen Folianten reich verziert und hübsch gemacht. Das Buch wies einen Verschluss auf, zu dem wahrscheinlich ein kleines Vorhängeschloss gehörte, welches jedoch fehlte.

Lisa klappte die erste Seite auf. Im Buchdeckel stand eine Widmung. ‚Für Sophie, zum achten Geburtstag! Herzlichen Glückwunsch, Mama‘. Sie begann zu lesen. Die ersten Einträge waren typisch für das Tagebuch eines Kindes, jedenfalls, wie Lisa sie sich vorstellte, denn sie selbst hatte nie Tagebuch geschrieben.

Nach einigen Seiten kam ein Eintrag, der Lisa merkwürdig vorkam, obwohl er strenggenommen nichts Beunruhigendes aussagte. ‘Heute hat Papa ein neues Spiel mit mir gespielt. Ich mag das Spiel nicht.‘ stand da. Beim weiteren Lesen häuften sich dann Sätze dieser Art. Sie sprangen Lisa beunruhigend ins Auge. ‚Papa hat wieder dieses Spiel mit mir gespielt.‘, ‚Papa will immer das blöde Spiel spielen. Ich will das nicht, aber er sagt ich muss.‘, ‚Papa sagt, das ist unser Geheimnis‘, oder ‚Heute Abend bin ich wieder mit Papa allein.‘ Je weiter Lisa las, desto entsetzter war sie, denn irgendwann in der Mitte des Tagebuchs änderte sich die Schreibweise und die Schilderungen wurden immer drastischer und direkter. Daraus ging hervor, dass das Mädchen jahrelang von ihrem Vater missbraucht worden war und ihre Mutter weggesehen hatte, obwohl das Mädchen sie um Hilfe gebeten hatte. Auch andere geschilderte Versuche Sophies, Hilfe zu bekommen, waren erfolglos geblieben.

Insgesamt wurde die Stimmung des Tagebuchs immer düsterer und trauriger, bis die Schilderungen mit einem Eintrag vor gut zwei Jahren abbrachen.

Lisa war entsetzt. Sie wusste, dass ihr Vater vor seinem aktuellen Buchprojekt ein Buch zum Thema Missbrauch und Gewalt in Familien geschrieben hatte, für das er sogar einen Preis bekommen hatte und sie war sich sicher, dass er Sophie dabei unterstützt hätte, Hilfe zu bekommen, aber offensichtlich hatte ihn der Hilferuf nicht rechtzeitig erreicht. Denn sie war sich auch sicher. dass es sich bei Sophie um die junge Frau aus dem Dorf handelte, die Martin finden sollte und die jetzt tot war.

Noch einmal trat Lisa an die Pinnwand heran und blätterte in den Messprotokollen. Ihr war etwas aufgefallen. Dann griff sie zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte Martins Nummer, die ihr Vater gemeinsam mit der Notiz an die Pinnwand geheftet hatte.

Es läutete nur kurz, als Martin schon abnahm.

„Ich bin es nochmal, Lisa“, sagte sie, nach dem er sich gemeldet hatte. „Sag mal, diese Sophie, wann ist sie gestorben?“

„Am elften Mai diesen Jahres, warum willst du das wissen?“, fragte Martin.

„Die Geschichte mit den Toten im Dorf, ich glaube, es gibt da einen Zusammenhang. Zuerst muss ich aber noch etwas überprüfen. Ich erzähle es dir später.“

„Du hörst dich an wie dein Papa. Ihr habt viel gemeinsam.“

„Ich muss auflegen, bis bald.“ Lisa drückte das Gespräch weg. Sie war zu aufgeregt für einen langen Plausch.

Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, die Informationen an der Pinnwand umzusortieren und zu ergänzen. So legte sie drei neue Spalten an und schrieb die dazugehörigen Personenbeschreibungen. Dabei ordnete sie den Mann und das Kind, denen sie in der Nacht zuerst begegnet war nebeneinander an, da sie sicher zusammengehörten. Neben den Namen Tiffi schrieb sie Sophie Kramer, den Namen der verstorbenen jungen Frau, von der Lisa annahm, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Den Zettel mit der Aufschrift ‚überprüfen‘ warf sie in den Papierkorb. Sie pinnte außerdem das Todesdatum an und malte ein kleines Thermometer daneben. Dasselbe tat sie auch bei Robert Arnold, nachdem sie in den Messprotokollen überprüft hatte, dass tatsächlich ein angemarkertes Datum mit dem im Zeitungsartikel übereinstimmte. Lisas Vermutung schien also zu stimmen. Daher schrieb sie noch vier Posties. Auf drei davon malte sie nur ein Thermometer und klebte sie in ihre neu erstellten Spalten. Auf das vierte notierte sie das verbliebene Datum der Messergebnisse, den neunten März und klebte es unter die Beschreibung der unbekannten Frau. Jetzt musste sie über das Todesdatum, ihr geschätztes Alter und ihr Aussehen irgendwie herausfinden, wer die Frau war. Vielleicht hatte Tom eine Idee.

Lange saß Lisa vor der Pinnwand und sah sich die verschiedenen Informationen an. Vier von sechs Personen waren ihr unbekannt. Morgen würde sie Tom bitten, die Messprotokolle von Mitte Mai bis jetzt auszudrucken und mit ihm gemeinsam überlegen, wie sie die Identitäten der restlichen Personen herausbekämen. Jetzt rauchte ihr nur noch der Kopf.

Sie verließ das Arbeitszimmer und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Inzwischen war es früher Abend geworden, und sie fühlte sich schrecklich. Seit dem Frühstück hatte Lisa weder etwas gegessen noch etwas getrunken. Ihr Kopf schmerzte, ihr war schwindelig und sie hatte den Eindruck, als sei ihr ganzer Körper klebrig und staubig.

Lisas Mama stand an der Anrichte und bereitete gerade einen gemischten Salat vor. Ihren Grillexperimenten gönnte sie heute wohl eine Pause. Sie drehte sich am, als sie bemerkte, dass jemand die Küche betrat.

„Oh Gott, Lisa, wie siehst du denn aus?“ Sie eilte auf Lisa zu und brachte sie zum Tisch. „Komm, setz dich erstmal. Soll ich dir was zu trinken bringen? Möchtest du eine Kleinigkeit essen? Schau mal, hier sind noch Fladenbrot und Kräuterbutter von gestern.“ Sie stellte beides vor Lisa hin und holte ihr ein großes Glas Wasser.

Ihr Aussehen musste wohl schlimmer sein, als sie dachte, ging es Lisa durch den Kopf und jedes bisschen dieses Gedankens schien sich schmerzhaft durch ihre Gehirnwindungen zu schieben.

„Vielleicht war euer Ausflug heute Morgen doch zu anstrengend. Wo warst du eigentlich den restlichen Tag?“ Mama war an die Anrichte zurückgekehrt, goss die Salatsauce in die Schüssel und rührte behutsam um.

Das Geräusch, welches das Salatbesteck am Glas der Schall verursachte, dröhnte Lisa in den Ohren. „Später Mama“, antwortete sie nur. Der Anblick der Kräuterbutter und die Vorstellung von dieser geballten Ladung Fett in ihrem Magen verursachte Lisa Übelkeit. Lustlos kaute sie auf einem trockenen Stück Fladenbrot herum und spülte es, als es nicht durch die Speiseröhre rutschen wollte, mit einem großen Schluck Wasser herunter.

„Ich glaub, ich geh schon ins Bett.“ Sie stand auf, schüttete das restliche Wasser in sich hinein und wankte zur Tür.

„Möchtest du nicht mitessen? Der Salat ist fertig.“, fragte Ihre Mama, aber sie winkte ab und erklomm mühsam die Treppe.

Oben auf dem Treppenabsatz hielt sie kurz inne und überlegte. Ihr Körper klebte ekelig, aber zum Duschen war sie einfach zu schwach. Also schwenkte sie zu ihrem Zimmer ein und warf sich, dort angekommen, so wie sie war aufs Bett. Sicherlich würde sie später wieder aufwachen. Dann konnte sie immer noch duschen.

Das Mädchen öffnete die Augen. Sie sah ihre Mutter an, die vor dem Krankenbett saß und weinte. Neben dem Bett piepte eine Maschine.

„Hallo Mama.“ Die Stimme des Mädchens war schwach.

„Hallo mein Engel.“ Ihre Mama wischte sich die Tränen ab.

Das Mädchen versuchte den Kopf zu heben.

„Bleib liegen mein Schatz. Du bist an ein paar Maschinen angeschlossen, im Krankenhaus. Du hattest einen Unfall.“ Eine weitere Träne tropfte auf das weiße Bettzeug.

Die Stimme des Mädchens war kaum zu verstehen. „Ich schaff‘ das nicht allein. Kannst du Papa sagen, er soll mir helfen?“

„Was meinst du Schatz? Hast du geträumt?“

Die Kleine schüttelte den Kopf. „Ich hab‘ dich lieb Mama. Sei nicht traurig. Bis bald.“ Sie schloss die Augen. Dann wurde ihr Atem immer flacher und die Maschinen fingen an zu piepen.

Pfleger und Ärzte stürmten in das Krankenzimmer und schoben die Mutter beiseite. Hilflos stand sie daneben in einer Ecke des Zimmers. Das kleine Mädchen lag still da.

Lisa stand auf der Lichtung. Schnee fiel durch die Baumkronen, die seltsamerweise Blätter trugen, obwohl es Winter sein musste. Lisa sah an sich herunter. Sie trug einen Pyjama. Ihre Füße waren nackt und ihre Zehen gruben sich in den pulverigen Schnee, als sie sie bewegte. Lisa sah wieder auf. Am Waldrand auf der anderen Seite stand ihr Vater. Er zeigte ihr einen Schneeball in seiner Hand, holte aus und warf. So sehr Lisa sich bemühte, sie konnte dem Geschoss nicht ausweichen. Der Schneeball traf sie mitten ins Gesicht. Ihr Vater sah sie auffordernd an.

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