Licht

Die Nacht

„Ich komme jetzt mit, weil Mama das will“, meckerte Jannik, „aber ich glaub‘ dir das nicht. Papa ist nicht in dem Wald.“

Während Lisa ihm ein Kleidungsstück nach dem anderen reichte, redete er sich immer mehr in Rage.

„Ich weiß nicht warum, aber du willst uns nur ärgern.“

Lisa hatte aufgegeben, ihrem Bruder zu antworten. Von nebenan hörte sie Merle jammern. Das konnte ja heiter werden. Der eine war stinksauer und die andere quengelte vor Müdigkeit. Mama war aus dem Nachbarzimmer zu hören, wie sie mit einer Engelsgeduld auf Merle einredete, um sie dazu zu bewegen, sich anzuziehen. Lisa bewunderte ihre Mutter dafür. Sie selbst war drauf und dran, ihren Bruder mit seinem eigenen Unterhemd zu knebeln.

Da klingelte es an der Haustür. Lisa sah auf den Wecker auf dem Nachttisch ihres Bruders. Das musste Tom sein, die Uhr zeigte vier Minuten nach eins. Lisa warf Jannik die restlichen Kleidungsstücke zu und eilte die Treppe hinunter.

Als sie die Tür aufriss, stand da nicht Tom, sondern eine zornesrote Frau Kruger.

„Wie kannst du es wagen, so mit den Gefühlen deiner Mitmenschen umzugehen?“, schrie sie Lisa an.

Wütend ging Frau Kruger einen Schritt auf Lisa zu und stand jetzt direkt vor ihr. Herr Kruger, der ein paar Schritte hinter ihr gewartet hatte, versuchte sie an der Schulter zurückzuhalten, wurde jedoch ärgerlich von ihr abgeschüttelt.

„Sei doch vernünftig“, bemühte er sich, seine Frau zu beruhigen, doch die wurde nur noch wütender.

„Ich soll vernünftig sein? Du weckst mich mitten in der Nacht mit diesem Brief und ich soll vernünftig sein? Du verteidigst diese Göre jetzt auch noch!“ Nun entlud sich Frau Krugers ganze Wut auf ihren Ehemann.

Inzwischen war auch Tom hilflos hinter den Krugers im Vorgarten aufgetaucht und seine Großeltern hatten sich auf der anderen Seite der Mauer vor ihrer Haustür eingefunden. Für Lisa war das alles zu viel. Sie stand mit hängenden Armen da und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.

„Margret, sieh dich um.“ Herr Kruger sprach ganz ruhig. „Niemand will dir etwas. Ich habe dir den Brief nicht früher gezeigt, weil ich wusste, wie sehr er dich aufregen würde, andererseits habe ich nicht geahnt wie sehr. Aber seien wir mal ehrlich, was in dem Brief steht, haben wir doch alle gewusst. Die Wahrheit kannten wir längst. Wir haben es nur verdrängt. Du selbst hast Robert den Hügel hinaufgehen sehen und er war nicht der erste. Da muss erst ein junges Mädchen kommen und uns den Kopf zurechtrücken.“

Lisas Mutter war von hinten an sie herangetreten und legte ihre Arme um sie. Merle umklammerte ihr Bein und Jannik lugte um sie herum aus der Haustür.

„Er hat Recht“, sagte Toms Großvater. „Kommt rüber, ich mache uns einen Kaffee.“

Frau Kruger, von der alle Wut abgefallen war, ließ sich von ihrem Mann ins Nachbarhaus führen. Tom zeigte mit dem Daumen hinterher.

„Ich gehe mal mit und erkläre ihnen den Ablauf, bin gleich wieder da.“

„Wir holen dir mal eine Jacke“, meinte Lisas Mama und zog ihre beiden jüngeren Geschwister mit sich ins Haus. Sie hatte erkannt, dass Lisa ein paar Minuten für sich brauchte.

Lisa blieb allein auf der Haustreppe zurück. Sie setzte sich auf die Stufen und sah zum Waldrand hinüber. Dahinter, in der Ferne konnte sie erkennen, wie sich das angekündigte Unwetter am Himmel zusammenbraute. Vom Mondlicht beschienen türmten sich gewaltige Wolken am Horizont auf. In den letzten Minuten war es deutlich kälter geworden und ein immer kräftiger werdender Wind strich über die Hügelkuppe. Lisa fröstelte. War es wirklich richtig, was sie tat? Was, wenn sie sich irrte? Würden Trudi und Tiffis Mutter überhaupt kommen? Vielleicht war es auch besser, wenn nicht. Lisa ließ den Kopf in die Arme sinken.

Als sie wieder aufschaute, stand Tom vor ihr.

„Entschuldige bitte, dass ich dir vorhin nicht geholfen habe. Ich war total überfahren.“

„Macht nichts, mir ging es nicht anders. Ich werde es schon überleben.“

„Trotzdem! Frau Kruger ist übrigens inzwischen wieder harmlos. Sie kommt mit.“

„Wieviel Uhr haben wir?“

„Gleich viertel vor zwei.“

„Mama? Kommt ihr?“, rief Lisa ins Haus hinein, um dann an Tom gewandt zu ergänzen, „Ich will nicht wieder überrascht werden, falls die anderen noch kommen. Ich möchte lieber auf der Straße warten.“

„Kann ich verstehen“, meinte Tom.

Als Lisa ins Haus verschwinden wollte, um sich eine Jacke zu holen, hielt Tom sie auf.

„Warte mal kurz“, sagte er. „Ich habe etwas für dich. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich weiß, ist gerade vorbei, aber besser spät als nie.“

Er drückte Lisa eine Serviette in die Hand, in die etwas eingewickelt war.

„Keine Zeit zum Einpacken“, entschuldigte er sich.

Lise wickelte das Päckchen aus und zum Vorschein kam ein kleiner, abgegriffener Holzmarienkäfer.

„Das ist ein Glücksbringer“, erklärte Tom, „Den haben mir meine Eltern geschenkt, als ich so eine Angst hatte, zum ersten Mal allein im Kindergarten zu bleiben. Mit Funktionsgarantie. Gleich zur Begrüßung wollte mir nämlich der Honk der Igelgruppe eine reinhauen, ist dabei auf einem Bauklotz ausgerutscht und hat sich voll auf die Schnauze gelegt. Der ist eine Woche lang mit einer dicken Lippe rumgerannt und ist mir danach immer aus dem Weg gegangen. Ich habe gedacht, den könntest du brauchen, also den Glücksbringer, nicht den Honk.“

„Aber das kann ich nicht annehmen“, erwiderte Lisa und wollte Tom den Glücksbringer zurückgeben. „Der ist von deinen Eltern.“

„Ich bestehe darauf.“ Tom schloss ihre Hand um den Marienkäfer. „Er gehört dir. Und sollte ich ihn einmal brauchen, kann ich ihn mir ja leihen. So, und jetzt hole ich mir auch schnell eine Jacke und bringe gleich Krugers mit. Meine Großeltern wollen nicht. Sie halten es für unpassend.“

Trudi wachte davon auf, dass sie fröstelte. Schon wieder war sie am Küchentisch eingeschlafen. Ihre Zigarette klemmte noch im Aschenbecher. Sie war bis auf den Filter runtergebrannt und dann erloschen. Trudi erhob sich mit steifen Gliedern und zog den alten Morgenmantel enger um ihren Körper. Draußen war es dunkel. Sie musste also mehrere Stunden geschlafen haben. Es war wieder so weit, das spürte sie mit einer Gewissheit, die die Angst wieder in ihr aufsteigen ließ.

Sie ging an den Küchenschrank und holte eine halbvolle Flasche Wodka und ein Wasserglas heraus. Beim Füllen des Glases zitterten ihre Hände so sehr, dass sie die Hälfte verschüttete. In einem Zug kippte sie den Wodka herunter. Er brannte im Hals und im Magen, ließ ihre Finger aber augenblicklich ruhiger werden.

Er war wieder da, daran gab es keinen Zweifel. Es war keine Einbildung und es war auch nicht der Alkohol. Auf dem Tisch lag noch der Brief. Sie hatte ihn heute Morgen im Briefkasten gefunden, ohne Briefmarke und ohne Absender, nur mit der Aufschrift versehen ‚Für Trudi Arnold, sorry, ich weiß Ihren richtigen Vornamen nicht‘. Sie hatte ihn sofort gelesen und gleich darauf mit dem Trinken angefangen. Eigentlich trank sie immer erst abends, wenn sie sich so allein fühlte und die Angst kam, es könnte wieder eine kalte Nacht werden. Eine leere Flasche lag noch umgestürzt neben dem Brief auf dem Küchentisch.

Und nun war es so weit. Die Kälte war wieder da. Er war wieder da. Noch nie hatte sie sich getraut, nachzusehen, dennoch war es eine Gewissheit. Trudi schlurfte in ihren Hausschuhen den Flur entlang, öffnete die Haustür und legte den kurzen Weg bis zur Garage zurück. Möglicherweise stimmte ja, was in dem Brief stand. Ihr hatte ja auch nie jemand geglaubt und doch hatte sie Recht.

An der Garagenecke blieb sie stehen. Von hieraus konnte sie noch nicht hineinsehen. Zwei weitere Schritte und es gab kein Zurück mehr. Das Zittern kam wieder. Hätte sie nur die Flasche aus dem Küchenschrank mitgenommen. Sie schloss die Augen und zählte. Ein Schritt, zwei. Dann öffnete sie sie wieder.

„Hallo Robert.“

„Hallo Trudi – ich habe auf dich gewartet.“

„Ich weiß. Mir fehlte der Mut.“

„Es tut mir leid. Ich habe dich sehr verletzt.“

„Ich habe dir längst vergeben.“

„Ich habe keinen Ausweg gesehen.“

„Ja.“

„Begleitest du mich?“

„Ja.“

Robert nahm Trudis Hand und sie traten hinaus auf die Straße. Gemeinsam gingen sie auf den Hügel am Ende des Dorfes zu.

Kurze Zeit später standen Tom, Frau und Herr Kruger, Lisa, sowie Ihre Mutter mit Lisas kleinen Geschwistern auf der Straße. Alle waren dick eingepackt und zogen ihre Jacken enger um sich. Zum Glück hatten Toms Großeltern Krugers ebenfalls mit geeigneter Kleidung ausgestattet. Die Temperatur war fast bis auf den Gefrierpunkt gesunken und der immer stärker werdende Wind ließ sie umso mehr frösteln.

Lisa sah die Silhouette einer einzelnen Frau die Straße heraufkommen und bemerkte Angst in sich aufsteigen. War das etwa Helene? So ein Mist, sie waren noch nicht komplett. Auf den letzten Metern wurde die Frau von einem Auto überholt, das vor dem Haus von Toms Großeltern hielt, den Motor stoppte und die Scheinwerfer ausschaltete. Eine Person stieg aus, die Lisa gleich als die Frau aus dem Krankenhaus identifizierte. Sie kam zu der Gruppe herüber, nickte zur Begrüßung und wandte sich dann an Lisa.

„Ich möchte, dass es funktioniert“, sagte sie nur und blickte zu Boden.

Auch die andere Frau hatte die Gruppe erreicht.

„Wer hat mir den Umschlag in den Briefkasten gesteckt?“, fragte sie barsch.

„Ich“, antwortete Lisa, auf ein erneutes Donnerwetter gefasst.

„Und ich.“ Tom trat neben sie.

Die Frau wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen als mit einem Mal ein gleißendes Licht erschien und den Waldrand in einen blauen Schein tauchte.

Im selben Augenblick erschienen zwei Personen weiter unten auf der Straße. Trudi und Robert kamen Hand in Hand den Hügel hinauf, bogen von der Fahrbahn ab und liefen durch das halbhohe Gras auf das Licht im Wald zu. Trudi schien sich nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, sich anzuziehen, Lisa glaubte, den geblümten Morgenmantel zu erkennen.

„Es ist soweit“, sagte Lisa und setzte sich, ohne auf die anderen zu warten in Bewegung. Die Gruppe folgte ihr. Tom bemühte sich mit Lisa Schritt zu halten. Der Wind peitschte inzwischen über die freie Fläche und drückte die Gräser flach auf den Boden. Am Horizont waren die Lichtblitze des nahenden Gewitters zu sehen.

„Oh, oh“, Sagte Tom. „Das sieht nicht gut aus.“

Hinter sich hörte Lisa Merle.

„Boah“, sagte sie. „Wie macht Papa das?“ Offensichtlich beeindruckte sie das Spektakel mit dem Licht, der Kälte und dem Sturm.

Sie erreichten den Waldrand ein gutes Stück oberhalb der Stelle, an der Lisa ihn bisher immer betreten hatte, was ihrer Orientierung jedoch nicht schadete, da sie einfach nur auf das Licht zugehen musste. Sobald sie den Wald betraten, ließ der Wind merklich nach. Die Bäume schienen einen Großteil der Wucht des aufkommenden Sturms abzufangen. An dieser Stelle war das Unterholz viel dichter als weiter unten am Hügel.

Sie sah über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass ihr alle folgten. Die unterschiedlichsten Gefühle spiegelten sich auf den Gesichtern der Gruppe wider. Lisa erkannte Angst, Zweifel, Verwunderung, aber auch Hoffnung und eine gewisse Erwartung.

Lisa dachte an Trudi und ihren Mann. Sie hatte sie aus den Augen verloren, gleich als diese den Waldsaum erreicht hatten. Waren sie wohl schon auf der Lichtung angekommen? Und wo waren die anderen Toten?

„Hast du einen von den Toten gesehen?“, flüsterte sie Tom zu.

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, nur Robert. Ich nehme jedenfalls an, dass es Robert war, mit dem Trudi da händchenhaltend über die Wiese spaziert ist.“

„Wo bleiben die anderen? Was ist, wenn sie nicht kommen?“ Angst stieg Lisa in die Kehle.

„Darüber machen wir uns Sorgen, wenn es so weit ist. Jetzt müssen wir es erstmal bis zur Lichtung schaffen. Da braut sich ein ganz schönes Unwetter zusammen“, entgegnete Tom. Er hielt einen Brombeerast hoch, damit Lisa darunter hindurchschlüpfen konnte.

Plötzlich fing es an zu schneien, zuerst nur wenige, kleine Kristalle, dann immer mehr, so dass sie, durch den Wind, der wieder zugenommen hatte, schmerzhaft ins Gesicht stachen. Mama setzte Jannik und Merle die Kapuzen auf.

Als sie an der Lichtung ankamen, wurden die Flocken allmählich größer und tanzten durch die Luft. Kaum jemand aus der Gruppe hatte mehr ein Wort gesagt. Lisa blickte zum Himmel. Das Blätterdach rauschte und Wolkengebirge zogen rasch über den Himmel. Lisa ließ den Blick wieder sinken und schaute ihrem Vater, der nahe bei dem blauen Licht stand, direkt in die Augen. In der Hand hielt er einen Schneeball. Er zielte, warf, aber Lisa duckte sich mühelos weg. Das Geschoss landete mit Wucht direkt in Merles Gesicht. Das Mädchen, das ein Stück hinter ihrer großen Schwester gestanden hatte, protestierte nicht etwa, sondern wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und stürmte auf ihren Vater zu.

„Papa, Papa, das stimmt ja wirklich“, rief sie und sprang ihm in die Arme. Auch Jannik stürmte sogleich los und fiel ihm um den Hals. Lisas Mama ging langsam auf ihren Mann zu.

Lisa trat einen Schritt auf die Waldlichtung hinaus und sah sich um. Überall standen Menschen in Gruppen mit ihren verstorbenen Angehörigen im dichten Schneetreiben beisammen. Tom stand noch da, wo sie auf die Lichtung getroffen waren und wirkte ziemlich verloren.

„Komm“, sagte Lisa, „ich will dich meinem Vater vorstellen.“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

„Papa, das ist Tom. Er hat mir geholfen, das hier alles herauszubekommen.“

„Hallo Tom“, sagte Papa. „Du wohnst doch im Nachbarhaus, oder?“

„Hallo“, antwortete Tom. „Ja, das stimmt. Ich wohne bei meinen Großeltern.“ Etwas Besseres viel ihm nicht ein.

Lisas Vater musterte ihn durchdringend. Nach einer Weile sagte er, „Behandle meine Tochter ordentlich, sonst komme ich und verfolge dich aus dem Grab.“

Eisige Stille breitete sich aus. Tom wurde aschfahl. Dann brach es aus Lisas Papa heraus und er lachte los.

„Alles gut, war nur ein Witz. Wie es aussieht, hast du gute Arbeit geleistet und Lisa ordentlich unterstützt.“

„Mensch Papa“, mischte Lisa sich ein. „Nicht einmal tot ist man vor deinen Scherzen sicher.“

„Wir haben nicht viel Zeit“, wurde Papa ernst. „Kann ich kurz mit Lisa allein reden? Von euch verabschiede ich mich natürlich gleich auch noch.“

Mama nickte. Die kleineren Kinder lösten sich nur widerwillig von ihrem Vater, aber schließlich stand Lisa allein vor ihm.

„Du hast großartige Arbeit geleistet“, begann er. „Was du innerhalb einer Woche herausgefunden hast, war mehr als ich in mehreren Monaten zustande gebracht habe.“

„Tom war eine große Hilfe“, unterbrach Lisa. „Ohne ihn hätte ich sicherlich aufgegeben.“

„Ja“, fuhr ihr Vater fort, „aber das war es nicht allein. Du hast eine besondere Gabe. Ich habe mit sonst niemandem Kontakt aufnehmen können.“

„Wie meinst du das?“

„Der Schneeball.“

„Heißt das, du kannst meine Träume beeinflussen?“

„Nicht ganz. Ich kann nur auf meine und unsere gemeinsamen Erinnerungen zurückgreifen. Wir können uns auch nur an Orten treffen, an denen wir beide schon einmal waren. Warum das so ist, kann ich dir nicht sagen. Und ich musste leider feststellen, dass ich in den Träumen nicht mit dir reden kann. Das hat es etwas kompliziert gemacht. Deshalb musste ich auch auf den Hinweis mit dem Schneeball zurückgreifen.“

„Denk nach, schau genauer hin.“

„Genau“

„Aber du warst heute Morgen an meinem Bett, du hast mir gesagt, dass du mich liebst.“

„Es ist zwar wahr, dass ich dich liebe, und ich hätte es dir zu deinem Geburtstag gerne gesagt, aber das war ich nicht. Offensichtlich hast du auch eigene Träume.“

„Und die anderen Dinge, die ich geträumt habe, über die Menschen hier?“

„Ich kann es dir nicht sagen. Wie gesagt, offenbar hast du Fähigkeiten, die andere Menschen nicht besitzen. Nutze sie.“

„Ich habe so viele Fragen Papa, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.“

„Dafür ist leider keine Zeit.“ Lisas Vater breitete die Arme aus. Lisa kuschelte sich hinein und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.

„Ich werde gleich gehen und ich glaube, diesmal kann ich nicht zurückkommen. Vielleicht sehen wir uns in deinen Träumen. Ich werde es versuchen. Wenn es klappt, erzähl Mama und den Kleinen von mir.“

„Mache ich. – Papa?“

„Ja?“

„Wie ist es auf der anderen Seite?“

„Um das zu erfahren, musst du noch etwas Geduld haben, aber glaub mir, es ist gar nicht so viel anders als hier.“

Lisas Papa löste sich von ihr und winkte die restliche Familie wieder heran.

„Komm Papa, wir gehen jetzt nach Hause“, krähte Merle, als sie ihren Vater erreichte und wollte ihn mitziehen. Dieser blieb jedoch wie angewurzelt stehen, weshalb das Mädchen ihn schief von der Seite ansah.

Er hockte sich zu ihr auf den Boden und holte auch Jannik näher heran.

„Ich kann leider nicht mehr zuhause wohnen. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, wo ich jetzt hier bin, aber ich bin tot. Deshalb muss ich gleich gehen. Ich bin aber nicht weg. Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich euch.“

Merle fing an zu weinen und auch Jannik liefen Tränen über die Wangen. Mama und Lisa konnten sich nur mit Mühe zurückhalten.

„Es ist traurig, ohne Frage“, fuhr Papa fort, „aber ihr schafft das. Ihr habt euch, das ist viel wert. Und nun kommt, ich will mich noch von euch verabschieden.“

Er schloss seine Familie in die Arme und jetzt gab es für die Tränen kein Halten mehr.

„Ich liebe euch“, sagte Papa in das Schluchzen hinein.

Er gab seiner Frau einen langen Abschiedskuss, löste sich aus der Umarmung und ging durch den knatschenden Schnee auf das Licht zu.

Kurz bevor er es erreichte, drehte er sich ein letztes Mal um.

„Fast hätte ich es vergessen, herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag und denk an den Schneeball.“ Er zwinkerte Lisa zu machte einen weiteren Schritt und war mit einem hellen Aufblitzen verschwunden.

Auch die anderen Toten lösten sich nach und nach von ihren Angehörigen und traten in das Licht. Jedes Mal blitzte das blaue Licht auf und verschluckte die Person. Dann erlosch das Licht und die Lichtung wurde nur noch von gelegentlichen Blitzen des Gewitters, das inzwischen über sie hinweggezogen war, erhellt. Der Schnee fiel nun sanft, fast senkrecht zu Boden, denn der Wind hatte nachgelassen.

Tom, der die ganze Zeit abseits, am Rand der Lichtung gestanden hatte, schaute auf seine Armbanduhr. Es war exakt zwei Uhr.

Schweigend machte sich die Gruppe wieder auf den Rückweg, Lisa und Tom an der Spitze, wobei Lisa die Führung übernahm, da sie sich an den Punkten orientierte, die sie vom ersten Besuch in diesem Wald kannte.

Merkwürdig, dachte sie, als sie an dem bemoosten Felsen vorbeikamen. War das wirklich erst eine Woche her?“

Als sie den Waldsaum erreichten, bot sich ihnen ein außergewöhnliches Bild. Der Mond war durch die Wolkendecke gebrochen und beschien die Landschaft vor ihnen. Die Wiese und die beiden Häuser an der Straße waren von einer weiß glitzernden Schneeschicht bedeckt, während die dahinter liegende Landschaft von sommerlichen Feldern und im Nachtlicht blassgrünen Hügeln dominiert wurde. Sie warteten, bis alle zu ihnen aufgeschlossen hatten und überquerten die freie Fläche. Die Temperatur stieg inzwischen merklich an und der Schneefall ging in leichten Regen über.

Toms Großeltern warteten vor der Haustür. Tom bedachte sie mit einem beruhigenden Kopfnicken, woraufhin sie im Haus verschwanden. Er konnte ihnen morgen in Ruhe erzählen, was im Wald geschehen war. Er drehte sich um. Lisas Mama kam gerade mit Lisas völlig übermüdeten jüngeren Geschwistern auf ihn zu und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Gut gemacht Tom“, meinte sie im Vorbeigehen. „Ich bringe mal die beiden Kröten ins Bett, bevor sie ganz zusammenklappen. Wir machen morgen einen Ausflug zur Küste. Magst du mitkommen?“

„Gerne“, antwortete er.

Auf der anderen Straßenseite hatte sich der Rest der Gruppe um Lisa versammelt, um ihr zu danken. Sie winkte Tom zu sich herüber, um ihm seinen Teil der Lorbeeren abzugeben. Er stellte sich zwar dazu, es war ihm aber dennoch überaus peinlich, eine ganze Horde Erwachsener, die die beiden Teens mit Lob überschüttete. Vermutlich standen die Leute noch unter Adrenalin. Das würde sich legen.

Da es immer noch nieselte, zerstreute sich die Gruppe schließlich und Lisa und Tom standen allein im Regen.

„Das war es dann wohl“, sagte Lisa.

„Ja, das war es dann wohl.“ Tom sah Lisa an.

„Danke, dass…“, wollte Lisa ansetzen, doch der unterbrach sie.

„Lass gut sein. Mehr Lob vertrage ich heute nicht mehr.“

Lisa ertastete den Marienkäfer in ihrer Jackentasche. Sie nahm ihn heraus und betrachtete ihn.

„Der ist wirklich bombe“, Sie hielt ihn Tom hin. „Du bist sicher, dass ich ihn behalten darf?“

Er schloss ihre Hand um den Glücksbringer, wie er es früher in der Nacht schon einmal getan hatte, ließ Lisas Hand aber nicht sogleich wieder los.

Sie nahm auch seine zweite Hand, reckte sich zu ihm hoch und drückte ihm blitzschnell einen Kuss auf die Lippen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte zum Haus.

„Wir machen morgen einen Ausflug. Kommst du mit?“, rief sie ihm währenddessen zu.

„Ja, deine Mutter hat mich schon eingeladen“, antwortete Tom, obwohl sich alles in seinem Kopf drehte.

„Dann ist ja gut.“ Lisa wandte sich ihm in der Tür noch einmal zu, strahlte ihn an und knallte sie anschließend von innen ins Schloss. Tom blieb noch einige Zeit verwirrt im Regen stehen. Dann entschied er, dass es wohl besser war sich hinzulegen.

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