Tag sechs
„Lisa, bist du wach?“ Die Stimme ihrer Mutter drang in Lisas Bewusstsein.
„Lisa, wenn du wach bist, komm doch mal bitte ins untere Badezimmer.“
Lisa setzte sich im Bett auf und bemühte sich, zu sich zu kommen. Es war immer noch so drückend heiß.
„Lisa?“
„Ja Mama, ich komme“ Sie schlug die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. So wie sie war ging sie die Treppe hinunter. Den Schritt über die knatschende Stufe fanden ihre Füße von allein. Sie öffnete die Badezimmertür und trat ein.
Ihre Mutter saß auf dem Boden vor der Waschmaschine, Lisas Hotpants auf dem Schoß. In der Hand hielt sie das Kettchen mit dem Medaillon, welches Lisa auf der Lichtung gefunden hatte. Sie war leichenblass und starrte unverwandt auf das Schmuckstück in ihrer Hand.
„Woher hast du das?“, fragte sie.
„Das habe ich im Wald gefunden, wieso?“ Lisa verstand nicht, warum ihre Mutter so schockiert war. „Ist etwas damit?“
„Das hat dein Papa mir mal geschenkt. Es war unser Glücksbringer. Immer, wenn etwas wichtiges anstand, haben wir ihn uns gegenseitig mitgegeben. Papa hatte ihn am Tag des Unfalls mit. Seitdem war das Medaillon verschwunden. Wie kommt das in den Wald?“
„Bist du sicher, dass es deins ist Mama? Von den Dingern gibt es doch bestimmt viele.“
„Ganz sicher! Papa hat mal den Verschluss getauscht, der war kaputt. Er hat eine andere Farbe.“
Lisa sah sich den Verschluss an. Es stimmte. Er war eindeutig einmal ausgewechselt worden. Sie gab ihrer Mutter das Kettchen zurück. In ihrem Gehirn ratterte es. Konnte das wirklich sein?
„Mama, ich hab‘ da eine Idee. Ich bin aber noch nicht sicher. Vielleicht kann ich es dir bald erklären, du musst dich aber noch gedulden. Vielleicht stimmt meine Theorie aber auch nicht und ich bin einfach nur bescheuert. Ich gebe dir dann Bescheid.“ Damit ließ sie ihre Mama im Bad sitzen und rannte rüber zu Tom.
Sie klingelte kurz und als Toms Oma rief, dass die Tür offen sei, lief sie direkt die Treppe hinauf. Über die Schulter rief sie noch ein „Ich bin’s, Lisa, Guten Morgen“ und schon stand sie mitten in Toms Zimmer.
Der schreckte aus dem Schlaf hoch und rief „oh Scheiße, verpennt.“
Lisa stutzte. Irgendwas stimmte hier nicht. Da fiel ihr auf, dass das Zimmer komplett aufgeräumt war.
„Wow“. Kurz vergaß Lisa sogar, warum sie hergekommen war. Gerade, als sie sich wieder gefangen hatte, bemerkte sie, dass da wieder dieses Grinsen in Toms verschlafenem Gesicht war. Augenblicklich war ihr klar warum. Sie stand da, mitten in Toms Zimmer, barfuß, nur mit einem äußerst kurzen, leichten Schlafanzug bekleidet. Jetzt half nur, die Peinlichkeit wie selbstverständlich zu überspielen.
„Los, steh auf, es ist wichtig.“
Tom hörte auf zu glotzen und sprang aus dem Bett. Sofort war Lisa ihr eigenes Outfit nur noch halb so peinlich. Tom trug einen ehemals langen Kinderschlafanzug, der ihm an Armen und Beinen jedoch nur noch bis zur Hälfte reichte. Auf der Brust prangte ein Bild von Meister Yoda. Einen Kommentar verbiss Lisa sich.
Tom sagte, Lisas Blick bemerkend, nur resigniert, „alles andere ist in der Wäsche.“
„Das ist ja wie bei uns. Hast du die Messdaten schon durchgesehen?“
Tom schüttelte den Kopf.
„Habe ich drüben auf dem Schreibtisch vergessen“, sagte er.
Komm, mach deinen Rechner an.“ Lisa schob Tom auf seinen Schreibtischstuhl. Während der Computer startete, saßen sie nebeneinander und schwiegen.
„Und nun?“ fragte Tom, als das Desktopbild erschien.
„Ruf die Internetseite des Wetterdienstes auf“, antwortete Lisa. Und jetzt geh auf die Wetterstation oben auf dem Hügel. 13. Mai.“
Tom sah sie erwartungsvoll an.
„Okay, jetzt die Nachttemperaturen vom 12. auf den 13.“, wies Lisa ihn an. „Okay, jetzt vom 13. auf den 14. Und dann vom 14. auf den 15.“ Sie sah sich die Werte an und sagte dann, „ich glaube, ich habe das Rätsel gelöst.“
„Okay“, sagte diesmal Tom. „Was ist das eigentlich für ein Datum, der 13. Mai?“
„Das ist der Todestag meines Vaters.“ Lisa sah Tom direkt an.
„Uff.“ Tom entglitten die Gesichtszüge. „Und was hat der Tod deines Vaters mit dem Rätsel zu tun?“
„Er ist der große Mann auf der Lichtung.“
Das musste Tom erst einmal verdauen. Dann sagte er, „und ich kann dir sagen, warum diese Menschen noch hier sind. Ich bin gestern Abend darauf gekommen, nachdem wir uns verabschiedet haben. Da habe ich noch einmal über den Tag nachgedacht und plötzlich wusste ich es.“
„Nun rück endlich damit raus“, drängte Lisa.
„Überleg doch mal. Was hat mir nach dem Tod meiner Eltern am meisten zu schaffen gemacht? Was haben die Geschichten all dieser Menschen im Wald gemeinsam? Was wünschst du dir, wenn du an deinen Vater denkst?“
„Ich würde gerne noch einmal mit ihm sprechen. Ich konnte mich nicht verabschieden.“
„Genau“, sagte Tom.
„Noch etwas“, ergänzte Lisa. „Heißt das, um den Beweis zu haben, dass wir richtig liegen, müssen wir warten, bis wieder jemand stirbt?“ Sie bekam Angst bei dem Gedanken.
„So sieht es aus“, war Toms knappe Antwort
„Dann können wir jetzt nur noch warten.“ Schloss Lisa. Mehr gab es erst einmal nicht zu sagen.
Lisa ließ Tom in seinem Zimmer zurück und traf ihn an diesem Tag auch nicht wieder. Ihren Familienmitgliedern ging sie ebenfalls aus dem Weg. Lisa wollte ihre Gedanken sortieren und dafür brauchte sie Zeit für sich allein.
Am Nachmittag ging sie abermals auf die Lichtung im Wald. Sie blickte sich um und sah die Personen vor ihrem inneren Auge, wie sie auf der Waldlichtung gestanden hatten. Aus irgendeinem Grund kannte Lisa jede einzelne ihrer Geschichten, hatte sogar von ihnen geträumt, stand auf seltsame Weise mit ihnen in Verbindung. Ihnen allen war ein Abschied vor dem Tod nicht möglich gewesen und ihre Angehörigen, vermutlich auch sie selbst, litten darunter. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie keine Ruhe fanden und immer wieder hierherkamen.
Trudis Mann hatte sich das Leben genommen und sie einsam zurückgelassen. Frau Kruger war mit ihrer Schwester zerstritten und keine von beiden hatte den Mut, den ersten Schritt zu tun. Das Bedauern darüber hatte Helene mit ins Grab genommen. Tiffi hätte so gerne von ihrer Mutter gehört, dass diese ihr glaubt. Das kleine Mädchen war bei einem Unfall gestorben. Wenn Lisas Traum stimmte, hatte sie sich im Krankenhaus verabschiedet. Darum war sie wohl auf der Lichtung geblieben. Warum deren Vater da war, wusste Lisa nicht, schließlich lebte er noch, lag im Krankenhaus. Und endlich Lisas Vater, er wollte nur kurz mit dem Motorrad zu einem Freund und war auf dem Weg mit einem LKW kollidiert. Er fehlte nicht nur ihr. Mama, Jannik und nicht zuletzt die kleine Merle hätten ihn wenigstens noch ein letztes Mal zum Abschied in den Arm nehmen wollen.
War es möglicherweise Lisas Bestimmung, auch, wenn sich das kitschig anhörte, den Menschen auf der Lichtung und deren Angehörigen einen Abschied zu ermöglichen? Vieles war immer noch unklar. Warum war es in den Nächten, wenn die Toten erschienen so kalt? Wo kamen sie überhaupt her und wo gingen sie anschließend hin? Was war das für ein Licht? Warum waren nicht viel mehr Menschen auf der Waldlichtung? Es wurde immerhin schon seit Jahrhunderten von solchen Sichtungen berichtet. Obwohl so viele Fragen blieben, hatte Lisa das Gefühl, einen Weg gefunden zu haben, das Rätsel zu lösen und diesen Menschen zu helfen. Sie machte sich auf den Rückweg. Sie musste jetzt Geduld haben. Der Rest würde sich fügen.
Am Abend fühlte sich alles beruhigend und geordnet an. Sie war sich sicher, dass ihre Schlussfolgerungen zutrafen. Es war noch früh, aber ihre Familie hatte sie gebeten, zeitig ins Bett zu gehen, um noch einiges für ihren morgigen Geburtstag vorbereiten zu können. Sie hatte jetzt keine Angst mehr davor. Nachdem sie unter der Dusche den Staub des Tages abgewaschen hatte, zog sie einen frischen Pyjama an, um am nächsten Morgen für die unvermeidlichen Fotos geburtstagsfein zu sein und schlief gleich darauf ein.